Gehet hin

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Die Zeugen Jehovas unter dem Nationalsozialismus
Wachturm 1897 | © Wikimedia Commons

Seit 1910 gibt es die Bibelforscher, die sich später ‚Jehovas Zeugen’ nannten. Seitdem betreiben sie Schriftstudien, verteilen den ‚Wachturm’ und regeln streng das Leben ihrer Mitglieder. Im Hitler-Staat wurden sie verfolgt, verhaftet und auch hingerichtet. Verboten waren sie noch in der DDR. Nun soll in Berlin für die vom NS-Regime verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas ein Mahnmal entstehen. Doris Stickler informiert darüber.

Ihre Renitenz versetzte die Machthaber in Rage, ihre Standhaftigkeit im Glauben beschäftigte die führenden Köpfe von Justiz, Polizei und SS. Weil die Zeugen Jehovas sich der NS-Ideologie nicht beugten, nahm man Eltern die Kinder weg, kündigte Berufstätigen den Arbeitsplatz, strich den Älteren die Rente. Zu Tausenden wurden sie in Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Um die Gemeinschaft effizienter verfolgen zu können, gründete die Gestapo sogar eigens ein Referat.

Keine andere religiös-weltanschauliche Gruppe wurde von den Nationalsozialisten gnadenloser bekämpft. Keine andere behauptete aber auch mit vergleichbarer Entschiedenheit ihr Bekenntnis. Mit einer Gesinnung, die dem völkischen Denken diametral entgegen stand, waren die Zeugen Jehovas die erste Religionsgemeinschaft, die Hitler nach der Machtergreifung 1933 verboten hat. Die Feindschaft nationalsozialistischer Kreise hatten sie durch rege Missionstätigkeit bereits in den Jahren zuvor auf sich gelenkt. Allein der Name „Internationale Bibelforscher-Vereinigung“, wie sich die Zeugen Jehovas bis 1931 bezeichneten, nährte den Hass. Galten doch enge Auslandskontakte als suspekt.

Ihr Bekenntnis zur „Gleichheit der Rassen“ begriffen die Nationalsozialisten ohnehin als totalen Affront. Obendrein kündete die als chiliastische Bewegung in den 1870er Jahren entstandene Gemeinschaft vom nahenden Untergang der „alten Welt“ mitsamt der sie tragenden Mächte „Politik, Kapital und Kirche“. Für den Historiker und Buchautor Detlef Garbe lieferten die Zeugen Jehovas hinreichend Gründe, um von den Nazis als „Wegbereiter des jüdischen Bolschewismus“ verdammt zu werden. Politische Umsturzpläne hegten die Bibelforscher freilich nie. Sie passten sich anfangs auch den geänderten Verhältnissen an und missionierte nicht länger in der Öffentlichkeit. Zu weiteren Abstrichen an ihren Glauben waren die damals rund 25.000 deutschen Mitglieder allerdings nicht bereit.

So gut wie alle verweigerten in dem mit Hakenkreuzfahnen und gereckten Armen übersäten Land den Hitler-Gruß – das Wort „Heil“ gebührt ihrer Ansicht nach nur Gott –, leisteten keine Eide, beflaggten ihre Häuser nicht und traten keiner der staatlichen Organisationen bei. Mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 verschärfte sich ihre Situation. Unter Berufung auf das fünfte Gebot lehnten die Zeugen Jehovas den Kriegsdienst konsequent ab. Mehr als 250 Männer sind allein deswegen hingerichtet worden. Fast ausnahmslos sträubten sich später auch die im KZ internierten Frauen und Männer, Arbeiten für die Rüstungsindustrie zu leisten.

Da ein Arrangement mit dem Regime nicht zu realisieren war, beschlossen die Bibelforscher 1934, den Verkündigungsdienst erneut aufzugreifen. Sie errichteten illegale Strukturen, entwickelten konspirative Techniken und brachten ihre Botschaft in Wort und Schrift wieder unter das Volk. Ende 1936 und Anfang 1937 gelangen ihnen logistische Meisterstücke. In minutiös geplanten Aktionen verteilten Zeugen Jehovas reichsweit rund 10.000 Flugblätter, in denen sie die Christenverfolgung angeprangert haben. Der NS-Apparat reagierte entsprechend: „Das muss man ausrotten!“, geiferte Hitler. Infolge kam es zu Massenverhaftungen und weitreichenden Repressalien. Während die Kirchen hierzu weitgehend schwiegen, bekundete Karl Barth, Spiritus Rector der Bekennenden Kirche, seine Solidarität mit den Gehetzten.

Mehr als 10.000 Zeugen Jehovas – Männer wie Frauen – landeten im Laufe der Naziherrschaft in Gefängnissen, über 2000 in Konzentrationslagern, wo etwa die Hälfte nicht überlebte. Vor Kriegsbeginn haben sie in manchen Lagern zeitweilig sogar die Mehrzahl der Häftlinge gestellt. Von ihren Mitgefangenen unterschieden sich die Bibelforscher nicht nur durch den lila Winkel, den die SS als eigene Kategorie ersonnen hatte. Sie waren die einzigen Inhaftierten, die durch eine Unterschrift wieder die Freiheit erhalten konnten, hätten sie sich von ihrer Glaubensgemeinschaft losgesagt. Das taten jedoch nur die wenigsten.

Dabei waren die Zeugen Jehovas wegen ihrer Unbeugsamkeit zunächst besonders sadistischen Quälereien ausgesetzt. So schickte man sie etwa generell in die Strafkompanie. Erst in den letzten Kriegsjahren, als das Regime Arbeitskräfte benötigte, milderten sich die Schikanen. Überdies hatte die SS gewissermaßen resigniert. Wie Detlef Garbe in seinem Buch „Zwischen Widerstand und Martyrium“ beschreibt, standen die NS-Schergen der „offenen und notfalls auch zu allen Opfern bereiten Haltung“ der Bibelforscher ratlos gegenüber. „Die Zeugen Jehovas suchten den Tod nicht, aber sie zogen ihn der Verleugnung ihres Glaubens vor.“ Fast alle hätten die Gefangenschaft als eine Prüfung ihrer Gottestreue betrachtet. Selbst Heinrich Himmler habe schließlich einsehen müssen, dass gegen ihre religiöse Überzeugung nicht anzukommen war. Der Reichsführer-SS spielte dann gar mit dem Gedanken, sie nach dem Sieg zu Befriedungszwecken im okkupierten Osten anzusiedeln.

Da von den Zeugen Jehovas weder Sabotage, Flucht noch Auflehnung zu befürchten war, besetzten SS-Offizieren mit ihnen ab 1943 „Vertrauensstellungen“ wie Schreiber oder Bedienstete. Mit ungebrochenem Sendungsbewusstsein nutzten die Bibelforscher diese „Gunst“, um in den KZ heimlich Gottesdienste zu feiern, eingeschleuste religiöse Schriften zu verteilen und – nicht ohne Erfolg – Mitgefangene zu missionieren. Ungeachtet der drakonischen Strafen hielten sie ein Kuriernetz zwischen den verschiedenen Lagern in Gang. „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“, erinnerte sich die ins KZ Moringen deportierte Kommunistin Gertrud Keen.

Auch Martin Niemöller hatte während seiner Internierung ihren standhaften Glauben erlebt und bekannte kurz nach dem Krieg: „Wir Christen von heute stehen beschämt da vor einer so genannten Sekte wie die der ‚Ernsten Bibelforscher’, die zu Hunderten und Tausenden ins Konzentrationslager und in den Tod gegangen sind, weil sie den Kriegsdienst ablehnten und sich weigerten, auf Menschen zu schießen“. In der Öffentlichkeit wie in der wissenschaftlichen Forschung erfuhr jedoch das Schicksal der Zeugen Jehovas so gut wie keine Resonanz. Gehörten sie bislang zu den vergessenen Opfern des NS-Regimes, hat sich nun Ende Juni der Bundestag für ein Mahnmal ausgesprochen. Lange Jahre ausgeblendet wurde zudem ihre abermalige Drangsalierung in der DDR. Ab 1950 verboten, hat man über ein Viertel der rund 23.000 dort lebenden Anhänger verhaftet. Damit waren die Zeugen Jehovas die größte geschlossene Opfergruppe des Arbeiter- und Bauernstaates. In zwei Diktaturen verfolgt, mussten manche Bibelforscher wegen ihres Glaubens über 20 Jahre Haft ertragen.

Literaturtipps:

Detlef Garbe: „Zwischen Widerstand und Martyrium“, München 1993

Gerhard Besier/Clemens Vollnhals (Hrsg.): „Repression und Selbstbehauptung“, Berlin 2003

Johannes Wrobel: „Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main“, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft, Heft 2/2003, Göttingen

Tagesschau 22.6.2023

Für die vom NS-Regime verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas soll in Berlin ein Mahnmal entstehen. Einen entsprechenden Antrag der Ampelkoalition und der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion billigte der Bundestag am Donnerstagabend einstimmig.
Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die Errichtung einer Gedenkskulptur im Berliner Tiergarten einzusetzen, die an das Schicksal der Religionsgemeinschaft erinnert.
 
 
Tausende wurden ermordet

Während der Nazi-Zeit wurden die Zeugen Jehovas massiv verfolgt, denn viele unterwarfen sich nicht dem NS-Terrorregime, zeigten keinen Hitlergruß und schickten ihre Kinder nicht in die Hitlerjugend. Tausende wurden verschleppt, inhaftiert und gefoltert. Mindestens 1.700 Mitglieder der Glaubensgemeinschaft verloren durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ihr Leben.

„Sie wurden wegen ihrer Religion verfolgt, drangsaliert, eingesperrt, ermordet”, sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Die geplante Gedenkstätte solle dafür sorgen, „dass sie keine vergessenen Opfer des Nationalsozialismus mehr sein werden“.

Letzte Änderung: 07.11.2023  |  Erstellt am: 07.11.2023

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