Solidarisch statt solide arisch

Solidarisch statt solide arisch

Demonstrationen gegen Rechts
Gemeinsam gegen RECHTS | © Manfred Zapp

Noch nie wurden so viele kleine Pappschilder mit so wenigen Worten, über die man erst einmal nachdenken muss, gesehen. Tausende Menschen sind auf die Straße gegangen, um gegen den völkischen Rechtsradikalismus und für den Umstieg auf regenerative Energie zu demonstrieren. Das Potsdamer Treffen hat die Gefahr bewusst gemacht. Peter Kern kommentiert.

Kundgebungen so groß, dass die Plätze sie nicht fassen können; Demonstrationen in ostdeutschen Städten, die man von Pegida-Aufmärschen kennt; Redner, die kraftvoll reden und den Nagel auf den Kopf treffen können; Zuhörer, deren Plakate von Witz statt von sterilen Parolen zeugen: Man hat sowas nicht mehr für möglich gehalten. Vielleicht weil die für die AfD prognostizierten Umfragewerte wie die Frühjahrsflut immer noch zu steigen schienen.
Das Potsdamer Treffen der AfD‘ler mit den sogenannten Identitären und das dort verhandelte, Remigration genannte Projekt, das im Klartext Umsiedelung der Schädlinge am Volkskörper heißen muss, bringt die deutsche Rechte an einen Wendepunkt: Wenn ihr die Reaktion der demonstrierenden und der den Demonstranten beispringenden medialen Öffentlichkeit nicht schadet – abzulesen an den nächsten Umfragewerten – wird sie das Tempo, mit der sie sich zu einer faschistischen Partei fortentwickelt, verschärfen. Gehen die prognostizierten Werte nach unten, wird dies die AfD in ein Dilemma stürzen. Denn eine Alternative zu ihrer Selbstfaschisierung hat sie nicht mehr, seit sich der Höcke-Flügel zum ganzen Vogel gemausert hat.

Das nun drohende Recycling der alten CDU-Doppelpasskampagne, womit die Konservativen die Ampelkoalition vor sich her treiben wollen, hilft der AfD in ihrem Dilemma. Herr Merz steigt auf ihre völkische Rhetorik ein, wonach es nicht sein kann, dass einer, der ein paar Jahre hier unbescholten seiner Arbeit nachgeht, so einfach Deutscher werden kann. Der Staat ist demnach eine ethnische Abstammungsgemeinschaft, und die zum Staatsvolk gehören, sind miteinander blutsverwandt. Die das neue Einbürgerungsrecht attackierende CDU verteidigt das jus sanguinis; mit dem von der ersten rot-grünen Koalition durchgesetzten jus soli hat sie nie ihren Frieden gemacht.

In diesem Nation und Ethnie kurzschließenden Staatsverständnis ist, so hat Norbert Elias einmal geschrieben, eine „spezifisch deutsche Tradition des Verhaltens- und Empfindungskanons“ verankert, ein Wir-Gefühl, in das die Aversion gegen die Fremden massiv eingebaut ist. Volk und Volksgemeinschaft liegen in dieser Denktradition nebeneinander. Die Zugehörigkeit der Gleichgearteten wird durch den Gegensatz zu den Andersgearteten gestiftet. Die gegen die kosmopolitischen Eliten hetzende AfD – Fürsprecher des einfachen, sich nicht in der Welt herumtreibenden Volkes – lebt von dieser Tradition, welche die CDU gerade wiederbelebt.

Die deutschen Industrie- und Handwerksbetriebe brauchen qualifizierte, einwanderungswillige Arbeitskräfte jetzt und nicht erst dann, wenn der rein machttaktisch agierende Herr Merz wieder auf der Regierungsbank Platz genommen hat. In den Kreisen der großen Industrie muss man ihn höchst kritisch sehen, hat er doch unter Mithilfe des Verfassungsgerichts die Schuldenbremse durchgedrückt, die den Strukturumbruch der Industriegesellschaft nun über die Maßen erschwert. Jetzt sind die Steuermittel höchst limitiert, die es braucht, damit die Produktionsprozesse endlich karbonfrei ablaufen, das E-Auto zum Massenverkehrsmittel wird und die Stromtrassen die Offshore-Windräder der Küste mit den industriellen Zentren des Südens verbinden. Mit der Schuldenbremse ist der Koalition das Kunststück abverlangt, gleichzeitig auf der Bremse zu stehen und Gas zu geben. Neoliberales Sparen und keynesianisches deficit spending gehen aber nicht zusammen.

Es geht nicht zusammen, was nicht zusammen gehört. Vielleicht wird die groß angekündigte Transformation zur großen Bauchlandung werden und eine führende Industrienation wird vor der Klimakatastrophe resignieren, anstatt zu versuchen, sie abzuwenden. Dann hat Merz, was er will, und die deutsche Wirtschaft wird wirklich zum kranken Mann Europas und erleidet die Malaise, die der Krankbeter permanent herbeizureden versucht.

Der Ausstieg aus dem konventionellen Autoantrieb und der Umstieg von den fossilen auf die regenerativen Stromquellen ist für die deutsche Ökonomie ein völliger Strukturumbruch. Der wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen und damit vergleichbar sein mit dem Ende der klassischen, einmal ganze Bundesländer prägenden Montanindustrie. Was an Bergwerken und Eisenhütten ab den siebziger Jahren im Saarland und in Nordrhein-Westfalen verloren ging, kompensierten die Fabriken der Autoindustrie. Die steht nun ein halbes Jahrhundert später selbst im Feuer. Merz will den Mount Everest an Problemen, vor dem die deutschen Industriegesellschaft steht, unter die Aufmerksamkeitsschwelle drücken. Er will die Öffentlichkeit für dumm verkaufen, aber wenn die Dummen als Stimmvieh gesammelt werden, läuft ihm die AfD den Rang ab. Die propagiert den deutschen Diesel, das Raus aus dem Euro und einen für die Biodeutschen reservierten Arbeitsmarkt. Die AfD hofft, dass es genug von den Boulevardmedien und der Kulturindustrie verblödetes Stimmvieh gibt, das ihre propagierte Politik für die Lösung und nicht für die völlige Verschärfung aller ökonomischen und ökologischen Probleme hält. Die gegen das völkische Politikmodell der AfD auf die Straße gehen und ihre Plakate hochhalten, haben auch für die CDU eine Botschaft: Wer die Ressentiments gegen das neue Einbürgerungsrecht bedient und sich um die Zahnarzttermine der Deutschen sorgt, muss als Fleisch vom Fleisch der Völkischen gelten.

Letzte Änderung: 27.01.2024  |  Erstellt am: 27.01.2024

divider

Kommentare

Ralf Rath schreibt
Nicht unbedingt Friedrich Merz, sondern allen voran Olaf Scholz will derzeit vergessen machen, dass es politisch nicht darum gehen kann, eine noch lange Wegstrecke hinter sich zu bringen, wie Burkart Lutz als damaliger Nestor der Industriesoziologie in der Ausgabe 1/1993 der Gewerkschaftlichen Monatshefte einst auf der dortigen Seite 29 bereits kritisierte. Vielmehr hat die individuelle Freiheit und der Gedanke einer richtigen Gesellschaft längst eine Stätte gefunden, die es laut einem von Max Horkheimer an Theodor W. Adorno adressierten Brief vom 27. September 1958 stets zu verteidigen gilt. Die jüngste Rede des Bundeskanzlers gegenüber einer Hamburger Wochenzeitung von einer angeblichen "Reise, deren Ende noch nicht abzusehen ist", zeugt angesichts dessen bloß davon, die grundlegende Lösung der Probleme des insofern "wirklichen Lebens" (Planck, M., in: Berliner Tageblatt vom 25. Dezember 1930) fortgesetzt bis auf die Gegenwart auch künftig vor sich herzuschieben.

Kommentar eintragen