Schwarz ist keine Farbe

Schwarz ist keine Farbe

 Ein Gespräch mit Ambalavaner Sivanandan
Ambalavaner Sivanandan

Weißen, die ihre Pigmentschwäche als Merkmal der Überlegenheit über andersfarbige Menschen sehen, wies er ihren Denkfehler nach. Ambalavaner Sivanandan galt als einer der führenden politischen Denker im Vereinigten Königreich. In seinen zahlreichen Artikeln thematisierte der tamilisch-britische Schriftsteller und Aktivist in ungewohnt klarer Sprache das Problem des Rassismus. Clair Lüdenbach sprach im Juni 1989 mit dem damaligen Direktor des Institute of Race Relations (IRR), einer unabhängigen Bildungseinrichtung in London. Seine Aussagen sind heute hier so aktuell wie damals in England.

Heute gehören Curry-Gerichte ebenso zur englischen Küche wie Fish and Chips. Und geht man in eine Behörde, begegnen einem asiatische, afrikanische und karibische Briten, durchaus auch in leitenden Positionen. Der Besuch eines Stadtteilfestes in London gleicht einem anglo-afro-karibisch-asiatischen Freundschaftsfest. Hat demzufolge Großbritannien die perfekte multikulturelle Gesellschaft? Was es mit dem begehrten Multikulturalismus auf sich hat, erzählt im folgenden Gespräch Ambavalaner Sivanandan. Zwanzig Jahre lang leitete er das Institut für Race Relations in London. Das IRR wurde gegründet, um über den Rassismus in Großbritannien und der ganzen Welt aufzuklären. Durch Gruppenarbeit an Schulen und in Gemeinden versucht es, Konflikten vorzubeugen und Betroffenen zu helfen. A. Sivanandan ist auch Redakteur der Zeitschriftenreihe ‚Race and Class‘ und schrieb das Vorwort zur englischen Ausgabe von Günther Wallraffs Buch „Ganz unten“. Er ist aktiv im Widerstand der schwarzen Gesellschaft tätig und publiziert ständig. A. Sivanandan wurde in Sri Lanka geboren, studierte Ökonomie und arbeitete für die Bank of Ceylon. Er wurde dort einer der ersten nicht-weißen Bankmanager. Als er nach England kam, arbeitete er, weil er als Ökonom keine Stelle bekam, zuerst in einer Bücherei und machte später eine Ausbildung zum Bibliothekar. Seitdem Großbritannien unter Margaret Thatcher den ökonomischen Aufstieg auf Kosten der sozial Schwachen betreibt, genießt A. Sivanandan eine gewisse Popularität in den Medien. Denn kaum jemand vertritt so furios wie er die Rechte der diskriminierten Farbigen.
Für seinen 1997 veröffentlichten Roman „When memory dies“ erhielt er den Commonwealth Writers’ Prize
A. Sivanandan starb 2018 mit 94 Jahren.
 
 

Clair Lüdenbach: Sie reagierten verletzt, als ich von der Kultur der Immigranten sprach.

Ambalavaner Sivanandan: Ich habe etwas gegen den Begriff Immigrant, der schwarze Menschen beschreibt, und mit schwarz meine ich Afro-Kariben, Afrikaner und Asiaten in Großbritannien. Es gibt in England eine schwarze – eine nichtweiße Bevölkerung –, die hier seit mindestens 30 bis 40 Jahren lebt. Aber einige von uns Schwarzen können ihre Linie zurückverfolgen bis zum 14., 15., 16.Jahrhundert, bis zur Sklavenzeit sowieso. Doch die meisten Schwarzen kamen in der Nachkriegszeit, um Großbritannien bei seinem Wiederaufbau zu helfen: im Bauwesen, Gesundheitswesen, Straßenbau, in der Stahlindustrie, im Transportwesen usw. In diesem Sinne war es unsere Arbeit, die in der Nachkriegszeit half, die britische Infrastruktur aufzubauen. Und es war unsere Arbeit, die das Transportwesen aufrechterhalten hat, und es war unsere Arbeit, mit der Großbritannien seinen Reichtum überhaupt begründen konnte. So sehe ich nicht ein, daß die Engländer, die in unser Land kamen, nicht Immigranten genannt werden; aber als wir nach Großbritannien kamen, hießen wir Immigranten.

Wir sind keine Gastarbeiter. Deutschland hatte keine nennenswerten Kolonien. Für seinen Nachkriegsaufbau bekamen sie ihre Arbeiter aus dem ärmeren Südeuropa als Vertragsarbeiter – Gastarbeiter. Großbritannien und in einem geringeren Maße Frankreich und die Niederlande bekamen ihre Arbeiter aus Dritte-Welt-Ländern, in denen die koloniale Ausbeutung schon seit Jahren im Gange war. Weil Großbritannien die größte Kolonialmacht war, konnte es Arbeitermassen bekommen. Als Enoch Powell Gesundheitsminister war, rekrutierte er Krankenschwestern aus Jamaika, London-Transport schickte Beamte auf die westindischen Inseln, um Busfahrer und Fahrkartenkontrolleure anzuwerben. Viele Ärzte, Schwestern und Lehrer kamen vom asiatischen Subkontinent. Deshalb haben wir Einwände gegen den Begriff Immigrant. Nicht weil wir ihn als eine Beleidigung empfinden, sondern weil er eine Lüge ist. Wenn wir unser Recht auf Leben in diesem Land begründen, müssen wir die Terminologie ändern. Wir sind keine Immigranten, sondern schwarze Zugezogene.
 

Sie wurden gebeten, hierher zu kommen. Aber es gibt auch eine andere Seite. Viele kamen doch aus ökonomischen Gründen?

Das ist nur die halbe Wahrheit. Was machte unsere Länder denn so arm? Ich bin aus Sri Lanka. Im 15. Jahrhundert waren wir der Kornspeicher des Ostens, wir exportierten Reis. 150 Jahre wurden wir von den Portugiesen besetzt, 150 Jahre von den Niederländern und 150 Jahre von den Briten. 450 Jahre Kolonialismus also. Zuletzt hatten wir ein Land ohne Essen, Bauern ohne Land, ein Arbeitspotential ohne Kapital, um es zu aktivieren. Das Industriekapital war in Großbritannien. Sri Lanka war eine Kornkammer, und als die Briten kamen, installierten sie Tee- und Kaffeeplantagen. Wie Marie-Antoinette sagte „Laßt sie Kuchen essen“, so sagten sie uns: „Laßt sie doch Tee essen!“ Wir mußten Reis importieren, aus Burma und Indien, für unsere Leute. Früher konnten wir exportieren, dann mußten wir importieren. Oder wenn sie Afrika anschauen. Es gab Imperien in Afrika, ganz Simbabwe war ein Imperium. Jedes Land entwickelte sich in seinem eigenen Tempo. Aber durch den Kolonialismus kollabierte dieses Wachstum.
 

Wie definieren Sie sich nun?

Wir sind schwarze Briten. Wir haben schottische Leute, irische; und sogar die Engländer unterscheiden sich in Liverpooler, Manchesterianer, Bristolianer, und sie haben verschiedene Akzente.
 

Sie würden sagen, schwarze Briten und asiatische Briten?

Nein. Schwarz ist eine Bezeichnung, die ich für Asiaten, Afrikaner und Afro-Kariben benutze. Wir wissen, daß Rassismus endemisch ist in Großbritannien. Wenn so ein Land über Generationen ein Imperium beherrscht hat, hat es eine Ideologie der rassistischen Überlegenheit, das ist eingeprägt in das Bewußtsein seiner Kinder. Rassismus ist so alt wie die Sklaverei und so englisch wie Shakespeare.
Warum nennen wir uns Schwarze? Alle, die in der Nachkriegszeit aus Asien und der Karibik – die wenigsten kamen aus Afrika – nach England kamen, kamen als Arbeiter. Auch ich, obwohl ich ein Studium vorweisen konnte, mußte als Teejunge in der Bücherei arbeiten. Wir konnten nicht entsprechend unserer Qualifikationen arbeiten.
 

Auch in der Zeit, als Arbeiter gesucht wurden?

Da gab es offene Stellen im Dienstleistungsbereich, aber weniger in Facharbeiterberufen. In der Zeit um 1965 brachte die Labour-Regierung ein Vouchersystem ein, das mehr Ärzten und Lehrern als Arbeitern die Chance gab, in England zu arbeiten. Damit war die Zeit des Wiederaufbau vorbei. Die Diskriminierung fand nun auf dem Wohnungssektor und in der sozialen Sicherheit statt. Als 1962 die Grenzen geschlossen wurden und die Leute noch ihre Familien rüberbringen wollten, gab es Diskriminierungen in den Schulen.
Rassismus ist für mich keine Haltung. Rassismus wird durch die Institutionen der Gesellschaft ausgetragen. Und das sind Papageien des Staates. Die verkommenen innerstädtischen Gebiete waren die einzigen Gegenden, wo diese Leute Wohnungen finden konnten. Weil sie sonst keine Wohnungen finden konnten, legten sie ihr Gespartes zusammen und bildeten eine Gemeinschaft. Als die Gewerkschaften den Jamaikanern und Asiaten nicht bei Arbeitsplatzproblemen helfen wollten, trat die kommunale Gemeinschaft für sie ein. In diesem Prozeß hielten die einzelnen Rassen zusammen und wurden zu einer Gemeinschaft der Schwarzen.
 

Wollen Sie sagen, daß die Leute sich nach dem Vorbild des Staates richteten? Daß der Staat künstliche Barrieren aufbaute?

Wir müssen das System verstehen. Das System verstand Schwarz als eine politische Farbe, das gab es ausschließlich in Großbritannien und nirgendwo sonst in der Welt. Ich ging Ende der sechziger Jahre nach Amerika und hielt Vorträge. Und dort war man überrascht, einen Asiaten „schwarz“ reden zu hören. „Schwarz“ war eine politische Farbe, die aus dem Widerstand stammt und nicht in Universitäten erfunden wurde. Der Staat fühlte sich dadurch bedroht und veränderte die Situation: In dieser Zeit sagten sich die Politiker, „Wir müssen den Rassismus überwinden, denn er wird politisch zu teuer“. Es begann der Multikulturalismus. 1968, als Roy Jenkins Minister der Labourpartei war, sagte er: „Wir müssen eine multikulturelle Gesellschaft haben. Rassismus war falsch. Asiaten, Afro-Kariben und alle müssen gleichberechtigt sein, gleiche Rechte haben.“ Und er sprach von kulturellen Unterschieden. Von diesem Moment an wurde die Kultur wichtiger als die Rasse. Die Schwarzen wurden aufgeteilt in Afrikaner, Kariben, Jamaikaner, Asiaten, Pakistaner, Inder, Moslems und Hindus, Sikhs usw. Der kulturelle Anstoß entstand aus dem Interesse, die Einheit der Schwarzen zu brechen; und damit hörte die Gemeinschaft auf zu bestehen.
 

Sie glauben wirklich, daß das ein politisches Kalkül war, daß durch die Rückbesinnung auf die Wurzeln einzelner Minderheiten die Gemeinschaft zerstört werden sollte?

Das glaube ich nicht nur, sondern das weiß ich…
 

Aber wenn ich mit Schwarzen rede, dann erzählen die mir immer wieder, daß sie zurück zu ihren ethnischen Wurzeln gehen müssen.

Ja, richtig. Heute ist Kultur dominierend. Es gibt überhaupt nicht so etwas wie eine „schwarze Politik“, weil Kultur dominierend ist. Aber es kommt eine neue politische Generation, die „schwarz“ reden wird. Es wird ein neues „schwarzes“ Bewußtsein geben, weil die jungen Leute in England geboren wurden, hier zu Schule gegangen sind, keine Jobs kriegen können und diskriminiert werden.
 

Also damals entstand eine Politik für soziale Minderheiten. Es ging um Geld.

Genau, es ging um Geld, um städtische Hilfe. Damit waren die Minderheiten eingekauft. Ich sage nicht, daß es damals keine Kultur gab. Natürlich, Kultur ist eine Möglichkeit, den Kampf anzufangen. Aber Kultur ist nicht die Grundlage des Widerstandes; die Auseinandersetzung ist nicht für Kultur, sondern gegen Rassismus. Keiner braucht mir meine Kultur beizubringen, die kennt niemand besser als ich selbst.
 

Wenn man hier lebt, hat man seine Kultur, aber man lebt auch in einer anderen. Man wird sie mischen, ohne es wahrzunehmen.

Ganz richtig. Die Kultur sollte sich nach außen öffnen. Kultur ist etwas, das dynamisch ist, alles einbeziehend, bastardisierend. Es ist die Bastardisierung der Kultur, die der Weiterentwicklung der Menschen hilft, und nicht das kulturelle Inseldasein. Die frühe Periode schwarzer Politik wurde zu einer Bedrohung für den Staat. Eine multikulturelle Politik wurde eingeführt und zerbrach Schwarz als eine politische Farbe. Als Geld an all die Selbsthilfegruppen ausgehändigt wurde, fühlten sich die, die bis dahin für die Gemeinschaft verantwortlich waren, denen gegenüber verantwortlich, die das Geld verteilt hatten. Anstelle von Organisationen für die Basis hatte man Organisationen, die für Leute arbeiteten, die das Geld von oben verteilten. Über einen jahrelangen Prozeß begannen Schwarze, die Erfolgsleiter zu erklimmen, erhielten Jobs. Eine Umschichtung fand statt. Diese Umschichtung verlief rapide nach dem Aufstand von 1981. Sogar Margret Thatcher entschied nach den Aufständen, daß Geld in die Innenstädte gebracht werden müßte. Sie schickte dann Heseltine nach Liverpool. Die städtische Unterstützung wurde wiederbelebt. Niemand redet darüber. Das war die erste Schlacht, die sie verloren hat: Sie sagte, niemals eine Kehrtwende, aber das war eine Kehrtwende, denn vor ihrer Ernennung zur Premierministerin sagte sie: „Die Leute lassen unsere Kultur versumpfen.“

Als es 1985 wieder Unruhen gab, die Ordnungskräfte Plastikgeschosse einsetzten und ein Polizist getötet wurde, gab es Geld für das GLC (Greater London Council). Das GLC wollte viel Geld unter allen verteilen, die sich ethnische Gruppierung nannten, und damit wurden wir weiter untergliedert (1987 wurde der Geldhahn endgültig zugedreht und das GLC aufgelöst). Wir sprachen nicht mehr von asiatischer Kultur, karibischer Kultur, sondern von Subkulturen und ethnischen Gruppen. Die irisch-ethnische, die jüdisch-ethnische Gruppe – das waren nicht einmal mehr Nationen. Jeder gehörte zu einer ethnischen Gruppierung, denn das Labour-Council gab Geld dafür. Unser Institut war in einer alten Lagerhalle bis 1985, wir konnten kein Gebäude bekommen, jetzt ist die Hälfte des Geldes für dieses Gebäude vom GLC. Ich sagte denen damals bei der Eröffnung: „Ich bin in den Tempel von Ethnic-City gekommen, um die Geldleiher zu vertreiben. Der einzige Grund, warum die uns Geld gegeben haben, war, weil wir der Gemeinschaft dienen. Leute bekamen Stellen in der Rassenbeziehungsindustrie, weil die Kids die Straßen niederbrannten. Die Mittelklasse bekam Jobs. Wir müssen unsere Ressourcen an die Jugendlichen der Innenstadt zurückgeben, denn das sind die, die am stärksten ausgeplündert wurden.

Es fand ein Auseinanderbrechen der schwarzen Gesellschaft in Klassen statt. Wir können nicht über Kultur sprechen. Über welche Kultur? Über die Kultur Indiens oder Pakistans, die Kultur der millionenschweren asiatischen Schiffsbauer? Oder welche asiatische Kultur? Die der Sikhs, Gujaraties, Hindus? Welchen bestimmten Aspekt wollen wir favorisieren? Den der Witwenverbrennung, des Brautgeldsystems, diese reaktionären Aspekte der Kultur? Oder ist es die Kultur, die in der nationalen indischen Unabhängigkeitsbewegung entstand, um ein ganzes Imperium zu stürzen? Wir erfanden in den sechziger Jahren die Kultur des Widerstandes, das ist die Kultur, über die man reden muß.
Wir müssen unterscheiden zwischen reaktionärer Kultur und progressiver Kultur. Der Widerstand der Frauen ausschließlich als Kampf gegen die Männer und nicht als Systemkampf ist reaktionär. Wenn der schwarze Kampf gegen Weiß ist und nicht gegen das System, gibt es den Weißen Macht und wird zu einem reaktionären Kampf. Der Kampf gegen Rassismus ist ein Kampf gegen ein ausbeuterisches System. Ich bin unterdrückt in meiner Rasse und ausgebeutet in meiner Klasse. Und ich kann zwischen beidem keinen Unterschied machen. Ich mache den Kampf nicht zu einem persönlichen Kampf. Reaktionäre Kultur hat zweierlei Folgen: Wenn man meine Kultur unterstützt, wie Witwenverbrennung oder den Fundamentalismus der Moslems, ausgeführt durch den Ayatollah: Wenn wir das unterstützen, fördern wir Ungleichheit in unserer eigenen Gemeinschaft. Ich bin ein geborener Hindu, und Hindus haben ein Klassensystem, die Unterschiede sind festgelegt durch die Hautfarbe. Also, wenn ich ein guter Hindu sein will, muß ich ein guter Rassist sein.

Über welchen Aspekt reden wir? Wenn es ein progressiver Aspekt ist, dann bin ich dafür. Als der Junge 1976 in Southall ermordet wurde, hat die Polizei fünf asiatische Jugendliche zu Unrecht verhaftet. Fünfhundert Jugendliche setzten sich vor die Polizeiwache und gingen nicht, bis die Polizei die fünf Jugendlichen wieder freigelassen hatte. Die hatten nie von Gandhi gehört oder von der Gewaltlosigkeit. Die Polizei benutzte Feuerwehrautos, um sie zu vertreiben, aber sie bewegten sich nicht von der Stelle. Das ist ein Aspekt von Kultur. Kultur ist nicht der Zweck des Kampfes. Kultur hilft, den Kampf zu entfachen.
 
 
 
 
Der Beitrag erschien zuerst in anderer Form am 3.6.1989 in der taz.

Letzte Änderung: 31.07.2023  |  Erstellt am: 31.07.2023

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