Heilige Holzsäulen

Heilige Holzsäulen

V/ertigo - Choreografien von Damien Jalet und Imre & Marne van Opstal
I’m afraid to forget your smile | © Macwell Aurelien James

Nach allem, was uns überliefert ist, war der Tanz zu Anbeginn eine rituelle Handlung. Und sehr weit hat er sich bis heute wohl nicht davon entfernt. Darüber hinaus schmiegt er sich gerne an andere Rituale an, wie zwei Choreografien am Hessischen Staatsballett in Wiesbaden zeigen, die Walter H. Krämer vorstellt.

Das Hessische Staatsballett zeigt unter dem Titel V/ertigo zwei sehr unterschiedliche Choreographien und bietet gleich drei aufstrebenden Choreograf*innen eine Plattform: dem Belgier Damien Jalet und dem niederländischen Geschwisterpaar Imre und Marne van Opstal. Zweimal 40 Minuten dauern die parallel produzierten Stücke „Skid“ von Damien Jalet und „I’m afraid to forget your smile“ von Imre und Marne van Opstal. Dazwischen aus gegebenem Anlass eine 30-minütige Um- und Abbaupause.

In „Skid“ ist eine um 34 Grad geneigte Wand die Fläche, auf der sich die 17 Tänzer und Tänzerinnen des Hessischen Staatsballettes bewegen müssen. Zwischen dem Wunsch, aufzusteigen und der Angst vor dem Fallen sind die Tänzer*innen hierbei dem Gesetz der Schwerkraft ausgesetzt.

Im ersten Teil von „Skid“ gehen die Tänzer und Tänzerinnen mit dieser Kraft mit und lassen sich fallen, gleiten und rutschen die geschrägte Plattform hinunter. Das hat etwas Spielerisches und zugleich auch Befreiendes. Am Ende jedes Abwärtsweges landen die 17 Tänzer und Tänzerinnen im Orchestergraben, um fünf, sechs Meter darüber, an der Oberkante wieder aufzutauchen und ihre nächste Runde zu beginnen.

Die Choreographie stellt eine erneute Auseinandersetzung des Choreographen Jalet mit dem japanischen Ritual „Onabashira“ dar. Beim „Onabashira“ (übersetzt „heilige Holzsäulen“) stürzen sich im Rahmen eines mehrmonatigen Festivals in der Präfektur Nagano alle sechs Jahre Männer auf tonnenschweren Baumstämmen blockreitend unter Lebensgefahr einen Hügel hinab. Hintergrund ist die Erneuerung der Säulen des Shinto-Schreins Suwa Taisha, für die die zuvor gefällten Bäumen dienen sollen.

Die ursprünglich angedachte Schräge von 45 Grad erwies sich als zu gefährlich. 34 Grad war dann der Kompromiss. Man muss also davon ausgehen, dass bei der Erarbeitung der Choreographie die nötige Sorgfalt und Achtsamkeit bezüglich Sicherheit und Gesundheit der 17 Tänzer*innen mit im Fokus standen und alle #beteiligten sich freiwillig dieser Anstrengung und Herausforderung stellten.

Vertigo – Skid | © Foto: Andreas Etter

Die Fläche hat keine Seiteneingänge. Es gibt nur den Weg von oben und unten. Beim Einsteigen und den Bewegungen der Tänzer*innen auf der Plattform entstehen starke Bilder und die Schatten, die auf der weißen Leinwand im Licht von Joakim Brink entstehen, wirken wie kalligrafische Dopplungen und verweisen auf die Vergänglichkeit des Tanzes.

Teil zwei von „Skid“ wird zum Aufstieg gegen die Schwerkraft. Die Tänzer*innen, jetzt in Uniform ähnlichem Outfit in den Farben Rot, Weiß und Schwarz, arbeiten sich in Formation gegen die Schwerkraft nach oben.

Teil drei bleibt rätselhaft. Eine Tänzerin schält sich aus einem Kokon ähnlichen Gebilde. Nackt müht sie sich nach oben. Endlich oben angelangt stürzt sie sich in aufrechter Haltung in die Tiefe.

„Skid“ ist nach der für den Theaterpreis DER FAUST 2017 nominierten Choreografie „Thr°ugh“ – https://www.youtube.com/watch?v=-tCJSKib2vA – die zweite Zusammenarbeit des Hessischen Staatsballetts mit dem belgischen Ausnahmechoreografen Damien Jalet.

Die Musik von Christian Fennesz liefert den lautstarken Soundtrack zu der Choreographie und intensiviert das Zuschauen – strapaziert allerdings auch die Ohren. Hörschäden nicht ausgeschlossen. Die Musik ist vielschichtig und vermischt Auszüge von Gustav Mahler mit elektronischen Klängen.

Vertigo – I am afraid | © Foto: Andreas Etter

Das niederländische Geschwisterpaar Imre & Marne van Opstal entwickelten für das Hessische Staatsballett ihre Neukreation „I`m afraid to forget your smile“ für zwei Tänzerinnen, vier Tänzer und den Opernchor unter Leitung von Ines Kaun (je vier Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassstimmen).

Sechzehn Körper sitzen auf Bänken an zwei Seiten eines nach vorne geöffneten Vierecks. Sechs weitere Körper liegen in der abgesteckten Fläche in der Mitte auf dem Boden. Gleißendes Licht fällt von oben auf sie herab. Der Klang kollektiver Stimmen erhebt sich zu einem Choral, und die Körper beginnen ihre Beine im wechselnden Takt auf den Boden zu schlagen. Ein trommelschlagartiger Rhythmus ergreift weitere Teile ihrer Körper und schickt diese in einer perkussiven Choreographie durch den Raum.

Dem Gesang von „April Rain“ antworten die auf dem Boden liegenden Tänzer*innen mit wachsenden Klopfbewegungen und -lauten. Es entstehen skulpturale Bilder unter den Tänzer*innen, aus denen der ausnehmend große und muskulöse Ramon John herausragt. Beeindruckend seine tänzerische und körperliche Präsenz.

Wo „Skid“ auf die Begleitmusik von Christian Fennesz vertraute, verbindet sich die choral-lyrische Anlage von „I’m afraid to forget your smile“ sehr eindeutig und stark mit der Choreografie. Der Titel verweist auf den Tod eines geliebten Menschen. Es geht um Trauer und ein Nachdenken über das Sterben und ein Leben nach dem Tode. Dieser Teil des Abends endet mit der lateinischen Anrufung Gottes und einem „Kyrie Eleison“.

Insgesamt ein beeindruckender und auch aufwühlender Abend mit den Besonderheiten Schräge und Chor – selten eingesetzte Mittel bei einer Tanz Choreographie.

Verdienter Applaus und strahlende Gesichter bei den Tänzern und Tänzerinnen beschließen den Abend.

In die Besprechung sind Ausführungen der Choreograph*innen zu ihren Werken – abgedruckt im Programmheft zur Aufführung – eingearbeitet.
 
 
 
 
Vorstellungen in Darmstadt / Großes Haus
14.4.24, 18 Uhr
Vorstellungen in Wiesbaden / Großes Haus
7.6.24, 19.30 Uhr / 18.6.24, 19.30 Uhr / 25.6.24, 19.30 Uhr

https://www.hessisches-staatsballett.de/de/stuecke/v-ertigo/

Letzte Änderung: 07.04.2024  |  Erstellt am: 07.04.2024

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen