Kommt Zeit, kommt Tod

Kommt Zeit, kommt Tod

Nachruf auf Jürgen Flimm
Jürgen Flimm | © Staatsoper Unter den Linden

Jürgen Flimm ist am 4. Februar 2023 81-jährig verstorben. Karlheinz Braun resumiert voller Hochachtung die Arbeitsleistung des Regisseurs, Intendanten, Schauspielers und Hochschullehrers. Dabei erinnert er sich an ein Wettrennen nach Erlangen vor 50 Jahren zu Studententheaterzeiten.

Ach, Jürgen, – so oft spielen wir im Theater den Tod, auch um ihn uns vom Leibe zu halten, danach stehen wir unter dem Beifall der Zuschauer wieder auf und leben. Aber dann ist er eines Tages wirklich da, und das Spiel ist aus. Kommt Zeit, kommt Tod, schrieb Heiner Müller. Jetzt war deine Zeit gekommen. Und ich, der wir uns seit unseren Anfängen her kennen, soll einen Nachruf auf dich schreiben. Seit dem Studententheater in den frühen 60er Jahren kennen wir uns, du in Köln, ich in Frankfurt, also über 50 Jahre, – eine lange Zeit für ein langes überaus reiches Leben. Aus diesem Studententheater (das heute nicht mehr so genannt werden darf) ist damals eine ganze Reihe von Theatermachern hervorgegangen, die dann einige Jahrzehnte lang das deutschsprachige Theater prägen sollten, Regisseure wie Stein, Grüber und Bondy, Neuenfels. Steckel und Peymann – und ganz vorn dabei warst auch du, Jürgen. Und dabei waren auch die in diesem Theater die Maßstäbe setzenden Dramaturgen wie Sturm, Wiens, Laube oder und Beil, die nicht vergessen werden sollten. Aber unsere Generation, die der 68erTheatermacher, ist längst abgetreten. Du hattest das alte Intendanten-Theater an den Münchner Kammerspielen als Anfänger noch miterlebt, aber du warst dann kein „Revoluzzer“ wie Stein oder die Frankfurter „Mitbestimmer“, sondern eher ein Trainer, der seine Mannschaft befeuerte, gern auch nach den Spielen mit den Kumpels in einer Kneipe ein Kölsch zu sich nahm. Du hast alle frohgemut angeführt, sei es am Regiepult oder später auf dem Stuhl des Intendanten. Du hast das „neue“ Theater wie selbstverständlich mitgemacht, aber nicht in erster Linie, um seine hergebrachte Organisationform strukturell zu verändern, wie zum Beispiel die Berliner Schaubühne. Für die Veränderungen standest du eher mit Deiner Person, mit dem Verzicht auf standesgemäßer Autorität und Hierarchien, der guten Zusammenarbeit mit Künstlern und Gewerken, und das mit deiner von vielen so gerühmten rheinischen Frohnatur und der so guten Laune (ohne die tiefen Schatten zu sehen, die sie auch manchmal zu verdunkeln drohten).

Wie kein anderer deutscher Theatermacher hast du die Leitung aller möglichen Institutionen der darstellenden Künste übernommen, als Regisseur von Schauspiel und Opern, als Intendant von großen Stadttheatern wie den Kölner Bühnen und dem Hamburger Thalia Theater. Du hast sowohl die Ruhrtriennale geleitet wie die Salzburger Festspiele. Du warst Präsident des Deutschen Bühnenvereins und der Deutschen Akademie der darstellenden Künste in Frankfurt. Du hast an mancher Hochschule im In-und Ausland dein Wissen und deine Erfahrungen weitergeben. In den letzten Jahrzehnten, als dein Interesse immer mehr zum Musiktheater gingt, hast du fast nur noch Opern inszeniert, in Berlin und Zürich und Wien, dann auch an der Mailänder Scala, der New Yorker Met, und der Königlichen Oper im Londoner Covent Garden. Am Ende und als nicht beneidenswerte Aufgabe hast du nicht nur die Intendanz, sondern auch noch die 7-jährige Sanierung der Berliner Staatsoper Unter den Linden übernommen. Mitsamt Daniel Barenboim, mit dem du ein ideales Gespann wurdest. Wie kann ein einzelner Mensch all das nur schaffen? Du musst ein Arbeitstier gewesen sein, sollte man meinen, aber du erschienst mir nie im Stress, – manchmal etwas müde, aber das sind Theatermenschen am Tage – alles, was du auch immer unternommen hast, war für dich wohl keine Arbeit, es war dein Leben, das du so offensichtlich genussvoll gelebt hast.

Aber du konntest natürlich auch delegieren: Stücke, die ich dir als Verleger angeboten habe, hast du nicht gerne gelesen. Du hast lesen lassen, und wenn die, denen du vertrautest, sagten, das sollten wir machen, dann hast du dich auch damit beschäftigt. Du warst nie besonders begierig auf Uraufführungen, aber wenn du auf ein Projekt gesetzt hast, hast du alles dafür getan, dass es auch zu einem Erfolg wird. Selbst ein so riskantes Projekt wie Robert Wilsons und Heiner Müllers legendäre mehrtägige CIVILWARS hast du in Köln nicht nur ermöglicht, sondern durchgezogen – wenn auch unter hörbarem Ächzen ob der ungewohnten Anforderungen des damals noch unbekannten Wilson. Aber du hast dann am Hamburger Thalia-Theater die Arbeit mit Wilson und dem lange vertrauten Dramaturgen Wolfgang Wiens mit Tom Waits sensationell erfolgreichem BLACK RIDER fortgesetzt. Treue zahlt sich aus, wie vieles in dem kollektiven Produktionsapparat Theater, den du so fürsorglich wie erfolgreich zu leiten gewusst hast.

Von deinen eigenen Inszenierungen habe ich sicher viele gesehen und wie so vieles auch wieder vergessen. Aber ganz im Gedächtnis ist mir noch deine erste Kölner Inszenierung geblieben, Kleists „Käthchen“ mit der neu im Westen erschienenen Katharina Thalbach und Elisabeth Trissenaar. Oder in Hamburg Tschechows „Platanov“ mit Elisabeth Schwarz und Hans Christi an Rudolph, in Frankfurt unvergessen, – eine tiefgründige und schmerzhafte Analyse einer untergehenden Gesellschaft. Wie dich überhaupt die Russen angezogen haben: ich denke da noch an den riesigen Skandal, den du im Münchner Residenztheater mit Isaak Babels Revolutionsdrama „Marija“ ausgelöst hast, nicht unbedingt aus politischen. Gründen, sondern wegen der realistischen Vergewaltigungsszene. Aber du warst nicht unbedingt auf Skandale aus, du genossest eher den Beifall des Publikums, der dir selbst bei schwierigsten Projekten nicht versagt war. Die du nicht scheutest, weder als Regisseur noch als Intendant. Deine große Zeit als Opernregisseur habe ich nicht mehr in den Theatern selbst verfolgen können. Natürlich habe ich deinen fulminanten Operneinstieg ausgerechnet mit Luigi Nonos „Al gran sole“ an der Frankfurter Oper unter Michael Gielen gesehen, auch deinen „Ring“ in Bayreuth, den man aber durchaus vergessen durfte. Aber keine deiner Mozart-Opern habe ich gesehen, ein Jammer wohl, denn mit Nicolas Harnoncourt müssen sie die Erfüllung aller Mozart-Träume seinerzeit gewesen sein.

Was für ein aufregendes und reiches Leben. Von dem du dich jetzt ausruhen kannst. Und von dem ich das private mit den Frauen und Kindern noch ausgespart habe. Und auch das der unvermeidbaren Krankheiten. Die Zeit verging, aber auch noch viele Jahre später, wenn wir uns trafen, erinnerten wir uns an unsere Anfänge im Studententheater der sechziger Jahre. Unter anderem an die Episode, als auf der Fahrt zur Internationalen Theaterwoche der Studententheater in Erlangen sich die LKWs der Studiobühne der Uni Köln mit dir und der neuen Bühne der Uni Frankfurt mit mir sich auf der A3 nach Nürnberg trafen, sich gegenseitig zu überholen versuchten, um endlich in einer Art Wettrennen das Ziel Erlangen zu erreichen. Wir lachten immer wieder über diesen jugendlichen Wettbewerb, den jetzt am Ende der Tod gewonnen hat. So wie er ihn bei uns allen gewinnen wird. Es war eine gute Zeit, Jürgen, du hast viel bewegt, mit Lust und Geist, das Theater und alle, die damit zu tun haben, werden dich nicht vergessen.

Letzte Änderung: 07.02.2023  |  Erstellt am: 07.02.2023

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