„Nimm, Mädchen, nimm!”

„Nimm, Mädchen, nimm!”

„Die Sache Makropulos” von Leoš Janáček in Berlin
 | © Monika Rittershaus

Den Traum vom ewigen oder wenigstens von einem 300-jährigen Leben hat Karel Čapek den Kaiser Rudolf II. träumen lassen. Sein Leibarzt Hieronymos Makropulos sollte das passende Getränk dafür anrühren und sogleich an seiner Tochter Elina ausprobieren. Diese Vorgeschichte führt zu Leoš Janáčeks Oper „Die Sache Makropulos”, die jetzt an der Staatsoper Unter den Linden Berlin am 13. Februar 2022 Premiere hatte. Alban Nikolai Herbst war beeindruckt.

Guths und Rattles „Die Sache Makropulos” von Leoš Janáček an der Staatsoper Unter den Linden Berlin

 | © Foto: Monika Rittershaus

Mit schwerem wie hohlem, einem einsamen Atmen geht es los, wir schauen in eine Monade gleichsam aus Milch, eine um sich selbst gekrümmte Blase purer Zeit, und rechts davon in das Stückchen Realität einer Rechtsanwaltskanzlei. Wirblig – wie sinnlos! – geht es da zu. In der Monade indes steht eine derart ferne Frau, daß sie, auch weil sie kein Haar hat, ohne Alter wirkt; sie ist völlig allein. Hinten hängt das Kostüm ihres nächsten Auftritts bereit, _Aus_tritts aus der Ewigkeit – wenn auch einer gefühlten; 337 Jahre erreichen die nicht. Doch für uns –„Du aber, Mensch, wie lang lebst denn Du?” -, die wir, in der Lindenoper hier, zusehn und hören, um von den begehrlich handelnden andren Personen der Oper zu schweigen, sind sie ihr Maß.

Immer noch das Atmen.

Und dann, in geradezu erschreckender Schönheit und Weite, läßt Simon Rattle die Staatskapelle los. Der Klang ist tatsächlich raum- doch eben auch zeiterweiternd; er „beamt” uns sowohl in den Auren der Melodik als auch vermittels ihrer Klangrisse in die letzten Zwanzigerjahre zurück, bis mit Bürovorsteher Vítek Janáčeks typischer, hautnah am Tschechischen pochender Kompositionsduktus einsetzt und uns im realen Prag jener Jahre ankommen läßt. Hier nun hat das Tanzensemble, anders als nebenan im Antikristen, eine durchgängig einsichtige, großartig, ja ihrerseits, darf ich hier schreiben, „komponierte” Funktion; sie bebildert nicht, sondern tut, soll nicht bedeuten, sondern ist, und das die gesamten etwa eine Stunde fünfzig hindurch. Wobei, daß alle Auftretenden, soweit sie singen, große Stimmen haben, bei einer Premiere der Berliner Staatsoper nicht eigens gesagt werden muß. Wir schwimmen da auf Weltniveau. – Oh, aber ich vergaß: Die Ewigkeitenblase hat sich nach links geschoben (auch schon ein Kunststück, daß wir dies nicht als von einer Drehbühne bewirkt wahrnehmen), die gesamte Bühne ward zur Kanzlei, worinnen hektisch die Akte des nun schon fast hundert Jahre währende Falles Prus ./. Gregor gesucht wird, der gerichtlich heute abgeschlossen werden soll und an dem aus begehrten Ewigkeitsgründen auch Emilia Marty Interesse hat, eine bewunderte, zur Zeit in Prag gastierende Opernsängerin. Welches Interesse in Wahrheit, verrate ich nicht. Doch haben wir in der Blase gesehen, wie die aus aller Zeit gefallene Frau sich angekleidet, auch mit Haar, hat. Jetzt sehen wir sie unendlich verjüngt und rasend schön die Kanzlei betreten. Und sie setzt an.

Vom ersten Ton an macht uns Marlis Petersens geradezu hilflos vor klanglicher Reinheit und Kraft. Wir spüren schon hier die von Marty verströmte erotische Magie, deren Wesentliches Kälte ist, und aber doch aus einer Not, die sich noch selbst nicht weiß. Sie, diese Frau, wird es sein, die scheinbar ewige, die sich entwickelt – nicht hingegen gelingt es den „realen” Personen. Es ist Claus Guths und seines Teams höchste Achtung gebietende Leistung, darauf nicht nur den Fokus dieser Inszenierung gelegt zu haben, sondern durch sämtliche Welten der Metamorphosen Emilia Martys uns bis ins Jahr 1601 – als sie sechzehn gewesen und Elina Makropulos noch hieß – sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Es ist doch so, das All ist kalt, verschwindend klein Planeten darinnen, auf denen auch nur selten Leben möglich ist. Das All ist kalt, die Zeit ist kalt, Elina aber wirkt nur so, in Zeitmilch bleibend getaucht, darinnen sie keine Kontur hat. So ist sie denn gefühllos, dann wieder interessegeleitet verführend – wie sie denn auch mit dem eitlen Prus die Nacht verbringt („Kalt wie Eis. Als hätte ich eine Tote gehalten.”) . Die Folgeszene ist durchaus, in schlimmer Weise, pervers: „Wollen Sie mir ins Gesicht spucken?” „Nein, aber mir.” Janáčeks – der nach Karel Čapeks auf, vor allem in den Hauk-Szenen, deutlich slawische Weise grotesken Komödie auch das Libretto schrieb – Janáčeks Mut also war selbst für die Zanzigerjahre ungeheuer. Guth und Petersen sind nur konsequent, wenn die Marty sich in dieser Szene obszön räkelt „(„… ich bin schon lange keine Dame mehr”), was heikel nur deshalb nicht ist, weil Petersens Körper sein Zurschaustellen mehr als nur erlaubt – und der Figur die Zeit, in der sie Hunderte „gehabt”. Das läßt sie denn auch höhnisch sagen, was scherten sie denn ihre Kinder? Die Musik dazu ist extrem. Nur daß sie von denen als „Trabanten” spricht (im Original „trabantů”), ist schon im tschechischen Libretto ein Fehler. Sie wird von denen ja eben nicht begleitet, lehnt solch Begleitschutz sogar ab.

Jedenfalls, nur einen ihrer Liebhaber (allenfalls Sexpartner für sie und wenn sie sich vom Einsatz ihres Leibes was Feines verspricht) … nur einen, vor langer Zeit, hat sie geliebt und gibt es zu fast am Ende Aufzug III, wiederholt es sogar – … dessent-, „Pepi”s, -wegen, indirekt, ist sie an Prus ./. Gregor überhaupt interessiert. Weshalb wir die „Sache Makropulos” auch von dem ebenso genannten „Fall” streng unterscheiden müssen. In den verschiedenen Übersetzungen des Titels, Věc Makropulos, geht’s aber munter durcheinander. Wie denn auch sonst, da wir doch sterblich sind und aus Martys Sicht „Schatten bloß und Sachen”?

Guths Inszenierung ist nicht ergreifend, sondern in ihrer ihrerseits Kälte brutal. Und dadurch, emphatisch gesprochen, wahr. Aber er versucht, die Kälte zu relativieren. Und da nun passieren Fehler, die solche nicht, sondern Zugeständnisse ans Publikum sind. Es mag noch angehen, daß er zur Plastizität einiger Themen – die bei Janáček zwar wiederholt, aber dieses vornehm, doch nie (anders als bei etwa Puccini) selbstbefeiert werden – immer wieder das Kind den Bühnenrand beschreiten läßt, das die Marty einst gewesen; ebenso die alte Frau, die sie hätte werden können. Abgesehen davon, daß ich mich von sowas, wie Adorno von Wagners Leitmotiven, ständig am Ärmel gezupft fühle, wo ich nun wirklich selbst beobachten und hören kann … davon also abgesehen, ist beides aufs schwerste sentimental und soll uns Affen Zucker geben. Indes hat genau sowas in Kunst nichts verloren. Und weil Guth das eigentlich weiß, begeht er den tatsächlichen Fehler. Als Marty, damals noch Makropulos, das Lebenselixier zu sich nahm, war sie sechzehn und eben kein Kind mehr. Zu ihrer Zeit galt sie als in heiratsfähigem Alter und hätte, wenn verehelicht, sehr ziemlich bald ein Kind bekommen. Da sie nach dem Trunk quasi nicht altert, blieb sie also immer sechzehn, was sie ja gerade auf alle Sterblichen, auch übrigens auf Frauen, so anziehend wirken läßt, daß es zum ihr Verfallensein führt. Da ist das auf- und abwandelnde Kind ein ebenso aber auch restlos falsches Bild, wie, nun wirklich am Schluß, durch die nunmehr geöffneten, ein verheißungsvollstes Jenseitslicht in den Raum schwemmenden Terrassentüren bunte Papierschnitzel wehen zu lassen, die, wenn wir gnädig sind, als Quasivögelchen an die Butterfly erinnern sollen, die Marty im zweiten Aufzug gibt, an Origami nämlich. Doch ist und bleibt es schlichtweg ein Kitsch, der dem falschen kleinen Mädchen die Hand gibt. Aus einem folgt das andre. Kunst ist erbarmungslos.

Vergessen wir’s schnell wieder. Die Inszenierung, ohne das, ist makellos und wird in mir, ich übertreibe nicht, für immer leben bleiben – in der Pandemie die zweite nach → Bieitos Lohengrin von Wagner, bei der es so ist. (Zu dem, übrigens, werde ich Mitte April kommen). Und trägt auch noch, Guths Inszenierung, ein nunmehr feines, sehr, sehr feines Moment, das wir als Hommage an Janáčeks Spätwerk verstehen müssen, ja als Verbeugung geradezu. Denn bei Janáček ist von der Butterfly gar keine Rede. Da befinden wir uns nur auf der von den Kulissen halb schon leergeräumten Bühne des Theaters, also Opernhauses, und Marty, die erst von hinter der Szene gerufen hat, tritt ein. Was sie gespielt hat, wird nicht gesagt. So darf und muß die Fantasie also walten. Daß Guth da ausgerechnet zu Puccini greift, ist geradezu genial, ausgerechnet zu dem seine Melodien noch und nöcher feiernden, derweil Janáček doch diskret bleibt wie genauso, später, Britten (an den kurz im zweiten Aufzug drei Takte erinnern – was sie natürlich nicht können, in Martys Ewigkeiten, hätt sie sie denn fortgesetzt, vielleicht dann aber doch) und die allerinnigsten Motive immer nur eben anklingen läßt, dann schon wieder zurücknimmt, und selten, selten steigen sie erneut auf. Das hat enorme, weil stille Nobilität. Derweil er sonstig Berührungsängste nicht kennt, auch nicht vorm unversehens Musical, Momente, die Guth auch spielen läßt und tanzen. Von der Ewigkeit in die Revue und seufzend schon zurück. Bereits ist dieses Martys Blick, alles wird belanglos, lebt wer nur lang genug. „Omrzí zemè, omrzí nebe! / A pozná, že v nĕm umřela duše”: Diese Zeilen nicht tschechisch zu singen, wäre ein Verbrechen. Dank sei den deutschen Obertiteln. Dank sei dem ganzen Team, allen Sängerinnen, allen Sängern und Barenboims Orchester, das sich in Rattles derart intensive Besessenheiten schmiegte und heben, höher und immer höher heben ließ, wobei gegen Ende fast ein wenig zu sehr, um nicht Petersens Gesang für – wenige, sehr wenige – Momente wegzuschlucken. Sie spürte es und holte noch mal aus. Das ging als Schauern übern Rücken und schneidenscharf ins Herz.

Berauscht nach zwei Stunden pausenlos Musik und Guths Musiktheaterkunst radelte ich heim. Und mochte noch nicht schreiben. Doch kam’s auf ein Der-erste-sein mir gar noch nimmer an. Es geht um Anderes, wenn wir uns hier befinden.

 | © Foto: Monika Rittershaus

Letzte Änderung: 15.02.2022  |  Erstellt am: 14.02.2022

 | © Foto: Monika Rittershaus

Věc Makropulos
Oper in drei Aken (1926)
Musik und Text von
Leoš Janáček nach dem gleichnamigen Schauspiel von Karel Čapek

Inszenierung: Claus Guth
Bühnenbild: Étienne Pluss
Kostüme: Ursula Kudrna
Licht: Sebastian Alphons
Choreographie: Sommer Ulrickson
Dramaturgie: Yvonne Gebauer, Benjamin Wäntig
Marlis Petersen, Ludovit Ludha, Peter Hoare,
Natalia Skrycka, Bo Skovhus, Spencer Britten
Jan Martiník, Žilvinas Miškinis, Adriane Queiroz
Jan Ježek, Anna Kissjudit

STAATSKAPELLE BERLIN
Simon Rattle

Nächste Aufführungen: 16., 19., 22., 25. und 27. Februar 2022
Staatsoper Unter den Linden, Berlin

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen