Wie geschmiert!

Wie geschmiert!

Theater La Senty Menti zeigt „All that matters“
Theater La Senty Menti  | © Katrin Schander

„All that matters“ ist ein Stück über Kindertransporte während des Nationalsozialismus. Und es ist die wahre Geschichte über Nicholas Winton und der wundersamen Rettung gefährdeter und vom Tod bedrohter Kinder durch sein Wirken. Premiere war nicht zufällig am 9. November 2023 – 85 Jahre nach den Novemberpogromen 1938 – dem Beginn der systematischen Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten. Walter H. Krämer ist von der Inszenierung beeindruckt.

Ausgangspunkt für dieses detailreiche Stück Erzähltheater sind die Tagebuch-Eintragungen von Vera Diamant (Pearls of Childhood). Aus diesen Aufzeichnungen haben Liora Hilb und Max Tribukeit eine für diese Altersstufe (ab 9 Jahren) stimmige und spielbare Fassung erstellt – wissenschaftlich begleitet von Anamaria Börner. Regie führte Günter Henne. Die wunderbaren Animationen und Vorlagen für die Flachfiguren der einzelnen Personen stammen von Leonore Poth. Umgesetzt für die Bühne hat die Flachfiguren dann die Bühnenbildnerin Natalia Haagen. Und diese sind eine Bereicherung für das Setting auf der Bühne und die Inszenierung. Musika-lisch – mit Akkordeon – begleitet Beate Jatzkowski die Inszenierung und ist neben Liora Hilb auch gleichzeitig als Spielerin mit auf der Bühne.

Es sind schreckliche Zeiten in Europa, und Hitlers Soldaten überfallen ein Land nach dem anderen. Als Nicholas Winton 1938 einen Skiurlaub plant, erhält er den Anruf eines Freundes, der ihn bittet, nach Prag zu kommen. Dort angekommen, sieht Nicholas sofort, was zu tun ist: Kinder vor dem sicheren Verderben, dem Weg in die Vernichtungslager zu retten. Er plant und organisiert, sucht Pflegefamilien in England und so gelingt es ihm, insgesamt 669 Kindern das Leben zu retten. In acht Zügen kamen sie auf die rettende Insel. Ein neunter Zug – schon voll besetzt mit Kindern –schaffte es nicht mehr.
In All that matters geht es nicht in erster Linie um die Schrecken des Krieges und der Vertreibung – obwohl auch dies durch Bildprojektionen von marschierenden Soldaten, fallenden Bomben und Geschwader von Flugzeugen – deutlich wird. In dieser Inszenierung geht es in erster Linie darum, Menschen zu zeigen, die wissen, worauf es ankommt und die mit Mut und Freundlichkeit Leben retten und das Leben für die nach England transportierten Kinder erträglich machen. So werden gleich zu Beginn die folgenden Sätze auf eine Leinwand projiziert: „Hoffnung ist wie eine Flamme. In einem Moment ist sie stark, im nächsten ist sie fast erloschen. Aber es bleibt immer ein Funke übrig.“ Es sind poetisch-hoffnungsvolle Erinnerungen wie diese, die die elfjährige Vera in ihrem Tagebuch hinterlässt und den Duktus der Inszenierung prägen.
Vera erinnert eine glückliche Kindheit in ihrem kleinen Heimatort. Dort konnte sie gut mit Katzen und nahm jede streunende Katze auf, die ihr über den Weg lief. Als die deutsche Armee in die Tschechoslowakei einmarschiert, wird es zu gefährlich – auch für die Kinder. Als die Eltern von Vera von diesem Engländer hören, der Kindern bei der Flucht aus dem Land hilft, um den Deutschen zu entkommen, beschließen sie, dass Vera und ihre Schwester Eva nach England gehen sollen. Und der Tag des Abschieds naht. Von ihrem Vater erhält Vera ein Tagebuch, in das sie bitte all ihre Erinnerungen aufschreiben solle – solange bis sie nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren könne.

Vera ist nach dem Krieg zurückgekehrt, aber ihre Familie lebte nicht mehr. In Konzentrationslagern ermordet oder an den Folgen des Krieges gestorben.

Theater La Senty Menti  | © Foto: Katrin Schander

Liora Hilb und Beate Jatzkowski wenden sich ganz zu Anfang an die Zuschauer*innen und stellen sich mit eigener Geschichte vor. Liora Hilb, in Israel geboren und mit 7 Jahren nach Deutschland gekommen. Beate Jatzkowski, in Polen geboren und bereits mit vier Jahren nach Deutschland eingewandert. Diese Geschichten schaffen einen persönlichen und direkten Draht zu den anwesenden Zuschauer*innen und bereiten eine vertrauliche Atmosphäre für die kommende Erzählung über Nicholas Winton und Vera Diamant vor.

Die beiden Spielerinnen nehmen eine der Flachfiguren (insgesamt gibt es zwölf davon!) – meisterhaft gezeichnet von Leonore Poth und in Kindesgröße hergestellt von Natalia Haagen – in die Hand, stellen diese vor sich auf den Boden und werden zum Sprachrohr dieser Person. Eingespielte kleine Trickfilmsequenzen – von Hand gezeichnet – eröffnen eine neue Dimension der Erzählungen und sind oft weit mehr als bloße Illustrationen. So beispielsweise, wenn von der Fahrt nach England erzählt wird und man aus dem Fenster eines fahrenden Zuges Berge, Wälder und auch die flachen Häuser in Holland vorüberziehen sieht.

Die Frau, bei der Vera untergekommen ist, ist eine Wucht – Mommy Rainford sprüht voller Lebensfreude und ermöglicht den Kindern viel. Es gibt keine Zwänge, keine Verbote. Vera kann aufatmen und ganz für sich und bei sich sein und ihre täglichen Eindrücke in das Tagebuch schreiben.

Vera muss erkennen, dass ihr Vater Unrecht hatte mit der Meinung, der Spuk der Nazis ginge schnell und leicht vorüber. Zum Glück für Vera und ihrer Schwester Eva bestand ihre Mutter darauf, die Kinder nach England zu schicken. Unterschiedliche Sichtweisen auf Erwachsene und deren Verhalten werden durch Wort und Spiel der beiden Darstellerinnen deutlich. Erwachsene haben eben nicht immer recht und es ist auch in Ordnung, sich gegen sie zu wehren.

Auf dem Weg nach England fehlt an der Grenze plötzlich der Stempel auf den Ausreisepapieren, und der Zug kommt zum Stehen. Nicholas Winton erledigt das und „wickelt“ den verantwortlichen Nazi Chef Boemelberg mit Worten und Geld förmlich ein. Beate Jatzkowski verleiht ihm eindrucksvoll Stimme und Gewicht. Nachdem er unterschrieben hat, noch etliche Schnäpse getrunken, verabschiedet er Nicholas Winton mit den Worten: „Das ging ja wie geschmiert!“ Eine aussagekräftige Szene zum Thema Schmiergeld / Korruption. Deutlicher geht kaum.

Das Stück macht gegen Ende einen Zeitsprung, und wir befinden uns 50 Jahre später bei / in einer BBC-Sendung wieder. Vorausgegangen sind hier Gedanken von Vera, die sich immer wieder gefragt hat, wem sie eigentlich ihre Rettung vor Krieg und Verfolgung und somit ihr Leben zu danken hat.

Nicholas Winton war ein Mann, der sah, dass etwas getan werden musste und dies auch in Angriff nahm. Und dies ganz selbstverständlich. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass er fast fünfzig Jahre lang niemanden von den Kindern, die er gerettet hatte, erzählte.

Erst im Jahre 1988 treffen Vera und Nicholas in der britischen Fernsehsendung „That’s life!“ aufeinander. Vera, nun eine erwachsene Frau und Nicholas, bereits ein alter Mann, lernen sich hier – knapp 50 Jahre später kennen, nachdem Nicolas’ Frau Grete auf dem Dachboden ihres Haues einen unscheinbaren Karton findet. Darin unzählige Dokumente, Fotos mit Namen von jüdischen Kindern, ganze Listen mit Visa Anträgen, Fluchtrouten und Transportunterlagen. Und sie beschließt, die bis dahin unbekannte Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen.

669 Kinder hätten nicht überlebt, auch Vera nicht, wäre Nicholas Winton nicht nach Prag gefahren und hätte gesehen, was getan werden musste.

Die Inszenierung verbreitet Optimismus und zeigt, dass es manchmal nötig ist, mutig zu sein und zu handeln (Nicholas Winton) und es von Vorteil ist, sich gegenüber Gemeinheiten zu behaupten und vielerlei Widrigkeiten zu trotzen (Vera).

Dank des eindrucksvollen Spiels der beiden Darstellerinnen und der vielfältig eingesetzten Mittel ist der Inhalt für junge Zuschauer*innen verständlich und nachvollziehbar und bietet Stoff und Anlass zu Gesprächen – gerade auch in heutiger Zeit.

Angesichts des Krieges in Nahost (seit dem 7. Oktober 2023), den Gräueltaten der Hamas an Bewohner*innen Israels und den Luftangriffen der israelischen Armee auf bewohntes Gebiet im Gazastreifen wünscht man palästinensischen Kindern auch einen Retter / eine Retterin – laut WHO sind in diesem Krieg schon tausende von Kindern gestorben.
 
 
 
 
Aufführungen im Theaterhaus wieder am 16.3. um 18 Uhr / 17.3. um 11 Uhr / 18. + 19. + 20. + 21.3. jeweils um 10 Uhr

https://www.theaterhaus-frankfurt.de/spielplan/detail/all-that-matters.html
Link zur Original BBC-Sendung mit Nicky und Vera https://www.youtube.com/watch?v=OqqbM1B-mPY))

Letzte Änderung: 28.11.2023  |  Erstellt am: 28.11.2023

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