Das Leben ist ein Witz

Das Leben ist ein Witz

Helmut Schlaiß‘s „Kafkas Kosmos“
Franz Kafka als Baby, ca. 1884 | © Wikimedia commons

Am 3. Juni 1924 ist Franz Kafka 100 Jahre tot. Aber so ganz tot kann er gar nicht sein, wenn unentwegt von ihm die Rede ist, von seiner existentiellen Verzweiflung, seiner problematischen Liebe, seinen absurden Geschichten und seinem abgründigen Humor. Der Fotograf Helmut Schlaiß hat Bilder seines Lebensumfeldes gemacht, ein schönes, ja ein edles Bilderbuch, meint Martin Lüdke, das mehr verspricht als es halten kann.

Sie waren jung. Sie trugen lange, schwarze Rollkragenpullover, dazu noch, obwohl unnötig, lange, sehr lange und ebenfalls schwarze Schals, sie bewegten sich, Frankfurt als Beispiel genommen, vorzugsweise zwischen der Hauptwache und der Kleinen Freßgass, dort am späteren Nachmittags auch vor oder im sogenannten Jazz-Haus (gesprochen Jatts – Haus), abends, unweit davon, im sogenannten Domizil. Sie nannten sich Existentialisten, hatten aber wahlweise Taschenbücher von Camus oder, noch beliebter, die Fischer-Ausgaben von Franz Kafka in den Taschen. Kafkas Türhüter als Türöffner, statt Mitgliedsausweis.
 
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Der Verleger, Autor, Lektor, Sammler und Verehrer Franz Kafkas, die unlängst mit 91 Jahren in Berlin gestorbene Verkörperung eines Menschen, der mit, in, für und durch die Literatur gelebt hat, Klaus Wagenbach, eine bewundernswerte Gestalt, hat sich sein Leben lang mit Kafka beschäftigt. Er hat Bücher über Kafka geschrieben, über Kafkas Leben, sein Werk, seine Welt. Er hat gesammelt, was es da zu sammeln gab. Und er galt früh schon, wohl ab den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Instanz in Sachen Kafka. Wenn irgendwelche Jubiläen anstanden, das deutsche Feuilleton wusste, an wen es sich wenden konnte. Nur, sagte er mir vor Ewigkeiten einmal, man suchte im Grunde immer nur das eine Bild: den Leidens- und Schmerzensmann Franz Kafka. Einen lachenden Kafka hätte man fast schon empört zurückgewiesen. Der passte nun so gar nicht in das Bild, das man sich von Kafka gemacht und über Jahrzehnte konserviert hatte.
„Kafkas Kosmos“, der jetzt bei Manesse in geschmackvoll edler Ausstattung herausgebrachte Bildband von Helmut Schlaiß, knüpft wieder an die alte Tradition an, die der schwarzen Schals und einer entsprechend grundierten Lebensgefühl.
Man kann vielleicht darüber streiten, in welcher Richtung die kleine Geschichte „Gib’s auf!’ von Kafka zu deuten ist. Es ist ja seine unübertroffene Stärke, dass sie in keiner Deutung restlos aufgeht.
 
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Es war früh am Morgen, die Straßen rein und leer. Ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr vergleich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden. Ich kannte mich in der Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und frage ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst du den Weg erfahren?’ ‚Ja, sagte ich, da ich ihn selbst nicht finden kann’, ‚Gib’s auf’, ‚gib’s auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“
 
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Aber egal, in welche Richtung man auch tendiert, ob geographisch, theologisch, existentialistisch, ja, wie auch immer, es bleibt das vermutete, zumindest mögliche Lachen des Polizisten, das dieser Episode alle Bitterkeit und Schärfe nimmt und im schlimmsten Fall zu der Erkenntnis führt: das Leben ist halt ein Witz.
Die, im Einzelnen wie in ihrer Gesamtheit, durchaus überzeugenden Bilder, Prager Häuser und Hinterhöfe, Straßen, Gassen, Hofeingänge und Details wie Fensterbögen oder Türschlösser, menschenleer, nachts, am späten Abend oder frühen Morgen aufgenommen, alles schwarz-weiß, das heißt: vor allem dunkel, diese Bilder provozieren in ihrer Konzeption einen entschiedenen Widerspruch. Die Grundfarbe ist schwarz. Zuweilen, aber eigentlich sehr selten, dürfen auch mal Grautöne dominieren. Aber die Stimmung bleibt düster. Das heißt, anders gesagt, der lachende Kafka hat in dieser Welt, die hier als „Kafka Kosmos“ vorgestellt wird, keinen Platz. Das heißt, die Absicht, „Kafkas Lebens- und Gedankenwelt des Prager Weltdichters“ mit den Mitteln der Fotografie, und zwar „künstlerischer Schwarz-Weiß-Fotografie zu reflektieren“, muss an dem für sie konstitutivem Widerspruch scheitern. Die notgedrungen düstere Welt, die von Helmut Schlaiß überzeugend präsentiert wird, ist eben nicht „Kafkas Kosmos“, sondern nur das Abbild der existentialistischen Nachkriegsvariante, die über Jahrzehnte unser Bild des Prager Dichters geprägt hatte und in den letzten Jahrzehnten, dank der imposanten Kafka-Forschung und einer gewaltigen Editions-Maschinerie entsprechend korrigiert worden ist. Zum Glück. Kafka muss nicht mehr als Religions-Ersatz herhalten. Er darf für sich stehen.
Die düstere Welt von „Kafkas Kosmos“ führt ihn aber zurück in die Nachkriegsjahre. Gott war weg. Kafka war da. Auschwitz auch. Die Hoffnung weg.
 
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Also: Nehmen wir das schöne, wirklich edle Buch, in der Gewissheit, dass alles mit allem zusammenhängt, in der Hoffnung der Hoffnungslosen – dafür haben wir ja Walter Benjamin. Und der hatte seinen Kafka.
Der Prachtband „Kafkas Kosmos“ wirkt als eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Wie Kafkas Geschichten? Oder wie deren einstige Lesart?
Die beigefügten Zitate, teils neben, teils unter den Bildern platziert, wirken entsprechend. Ihre Herkunft bleibt nämlich verschlüsselt, etwa, in winziger Schrift: NSF, II, 562.
Etwa: „Die Religionen verlieren sich wie die Menschen.“ Dazu ein Straßen- oder Brückenbild im dichten Nebel. Menschenleer. Auffallend viele Fotos zeigen Fenster, offen oder geschlossen, öfter dunkel als beleuchtet. Fast alles menschenleer. Ein einziges Fenster, sogar hell beleuchtet, im obersten Stock eines mondänen Wohnhauses, dicht an eine Kirche angelehnt, lässt inmitten der Dunkelheit, die dieses Fenster umgibt, natürlich die Gedanken von Verloren- und Verlassenheit aufkommen. Dazu bedarf es keiner erklärenden Worte von Kafka. Im Gegenteil. Und erst recht bedarf es nicht der Aufforderung, „bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur“ usw.
Kurzum: es ist ein richtig schönes Buch des nächtlichen Prag. Schöne Bilder. Es ist ein Bilderbuch der Stadt, in der Kafka geboren wurde, er der er gelebt, gearbeitet und, meistens tatsächlich nachts, geschrieben hat. Mit Kafka hat es eigentlich nicht viel zu tun. Denn die vielen Zitate, die neben den Bildern oft reichlich Platz gefunden haben, haben wiederum nicht viel mit den Bildern zu tun.
Der Verzückte und der Ertrinkende, beide heben die Arme. Der Erste bezeugt Eintracht, der Zweite Widerspruch mit den Elementen.
Es bleiben Rätsel. Das ist ja nicht so selten bei Kafka.

Letzte Änderung: 24.03.2024  |  Erstellt am: 15.03.2024

Kafkas Kosmos | © Wikimedia commons

Franz Kafka, Helmut Schlaiß Kafkas Kosmos

Eine literarische Spurensuche
von Helmut Schlaiß
Mit einem Nachwort von Freddy Langer
152 S., geb.
ISBN-13: 9783717525486
Manesse Verlag, München 2023

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