Ins Land der Mörder

Ins Land der Mörder

Michel Friedmans Buch „Fremd“
Michel Friedman | © Alexander Paul Englert

Der deutsch-französischer Jurist, Philosoph, Politiker, Publizist und Talkmaster Michel Friedman gehört zu den prominenten Intellektuellen im Lande. Der Rechtsanwalt, der einer polnisch-jüdischen Familie entstammt, hat sich vor allem als Fernsehmoderator bekannt gemacht. In seinem jüngsten Buch ist er und die Geschichte seiner Familie das Thema. Walter H. Krämer hat es gelesen.

Nimmt man das Buch FREMD von Michel Friedman zur Hand – SPIEGEL Bestseller nach mehr als 100.000 verkauften Exemplaren – so ist dort von Oliver Reese, Regisseur und derzeit Intendant am Berliner Ensemble, zu lesen: „Dieser Text ist das Persönlichste, Schmerzhafteste, was Friedman je geschrieben hat.“ So kann ich das zwar nicht bestätigen, aber dass dieser Text sehr persönlich schmerzhafte Erinnerungen des Autors teilt, das ist bei der Lektüre von Beginn an zu spüren. Es ist ein Buch über das innere und äußere Fremdsein, das den Autor in seinem Leben begleitet.

Ein Kind, voller Furcht, kommt nach Deutschland – ins Land der Mörder, die die Familien seiner Eltern ausgelöscht haben. Hier soll es Wurzeln schlagen, ein Leben aufbauen.
Das Kind staatenloser Eltern tut, was es kann. Es will Kind sein. Es will träumen. Es will leben. Doch was es auch erlebt, sind Judenhass, Rassismus und Ausgrenzung – und eine traumatisierte Kleinfamilie, die es mit Angst und Fürsorge zu ersticken droht.
Der Text ist offensichtlich und nachvollziehbar das Ergebnis aller bisher gemachten Lebenserfahrungen des Autors. Denn das im Buch immer wieder genannte Kind ist Michel Friedman selbst und beschreibt dessen Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft.
Das Buch erzählt von der Einwanderung nach Deutschland aus Paris, wo Michel Friedman und seine Familie nach der Shoah als staatenlose Flüchtlinge aus Polen lebten. Und es erzählt, wie er sich in letzter Sekunde gegen die Ausreise in die USA entschied, um doch in Deutschland zu bleiben. Und was die Hintergründe dafür waren.
Offen und sehr direkt berichtet der Autor über Erfahrungen von Schwäche und mit Mobbing, über Selbstverletzungen und über Therapien.
Und immer wieder auch über einen Unfall im Haus. Beim Spielen in der Wohnung kommt er einem Topf kochenden Wasser zu nahe, und der ganze Inhalt schüttet sich über seinem Körper aus. Verbrennungen, die ihn wochenlang ans Krankenbett fesseln, sind die Folgen. Und die Frage nach der Schuld.

Ein besonderes Merkmal dieses Buches ist die Form und die kunstvoll verdichtete Sprache, die der Autor für sein Erzählen gefunden hat. Die 176 Seiten des Buches haben eher die Anmutung eines langen Gedichtes als die einer Erzählung.
Diese eher ungewöhnliche Form erleichtert es dem Autor, all das zu sagen, was ihn bewegt und was er erzählen will: über seine Kindheit und Jugend im Deutschland der Nachkriegszeit, eine Kindheit als emigrierter Jude, als Sohn Überlebender, als ewig Ausgeschlossener. Und er findet immer neue Tonarten: mal poetisch, mal zynisch. Dann wieder wehmütig oder doch messerscharf und glasklar. Auch Denksprüche und Witze sind in dem langen Fluss der poetischen Erzählung enthalten. „Die lyrische Form war ursprünglich nicht geplant. Mit der Zeit aber wurde der Text immer nackter, knochiger. Nach der Fertigstellung war ich erschrocken und erschöpft. Für mich ist das Buch ein Spiegel. Ich schaue mich an.“

Dies ist ein Buch über das Fremdsein.
Das Fremde – das äußere und das innere.
Wer wie ich bis zum achtzehnten Lebensjahr mit einem Staatenlosen-Pass lebte,
wer wie ich Eltern hatte, die aus Polen stammten und die Shoah überlebt haben, in Paris aufgewachsen ist und als jüdisches Kind nach Deutschland kam, lebt im Nirgendwo. Ist heimatlos.
Eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale sein könnte.
So ist dieses Buch allen Menschen gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben.

Ich bin auf einem Friedhof geboren.
Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.
Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.
Weg von hier.
Aber wohin?
Wohin nur?
Wohin?

Der Text ist wortgewaltig, berührt unmittelbar emotional in seiner Verbindung von Poesie und genauer Beschreibung der Wirklichkeit und eröffnet Räume für eigene Gedanken und Gefühle.

Es ist ein mutiges Buch, das tiefe Einblicke in Michel Friedmans eigene Geschichte und die seiner Familie gewährt. „Und da gerade das Persönlichste in der Kunst oft von allgemeiner, gesellschaftlicher Bedeutung sein kann, bin ich mir sicher, dass viele Leserinnen und Leser von Fremd sehr berührt sein werden.“ Oliver Reese. Insofern ist das Buch auch ein sehr politisches Buch, dessen Lektüre unseren Blick auf heutige gesellschaftliche Zustände schärft und uns ermutigt, nicht wegzuschauen und zu handeln.

Michel Friedmans Bestseller „Fremd“ auf dem Theater

Als Inszenierte Lesung mit Sibel Kekilli am Berliner Ensemble in der Regie von Max Lindemann. Für die 1980 geborene Schauspielerin Sibel Kekilli, die seit Fatih Akins „Gegen die Wand“ (2004) zu den bekanntesten deutschen Filmdarstellerinnen gehört und zweimal mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, ist es die erste Theaterarbeit ihrer Karriere.

Am Schauspiel Hannover fand am 1. Dezember 2023 die Uraufführung der von Stephan Kimmig inszenierten Theateradaption von Fremd statt, es spielen Christine Grant, Stella Hilb, Max Landgrebe und Alban Mondschein. „Berührend und poetisch verleiht Michel Friedman den Gedemütigten und Ausgegrenzten eine Stimme“, heißt es in der Ankündigung des Schauspiels Hannover.
Im Frühjahr 2024 wird Fremd in einer Inszenierung von Lena Brasch am Maxim Gorki Theater aufgeführt werden.

https://www.piper.de/blog/termine/fremd-von-michel-friedman-kommt-ins-theater

https://www.youtube.com/watch?v=BChhjb7N958

Letzte Änderung: 13.04.2024  |  Erstellt am: 12.04.2024

Fremd | © Alexander Paul Englert

Michel Friedman Fremd

176 S., geb.
ISBN-13: 9783827014610
Berlin Verlag, Berlin 2022

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