Mit in den Graben

Mit in den Graben

Stephanie Barts Roman „Erzählung zur Sache“
Baader, Ensslin, Raspe | © Thilo Parg, wikimedia commons

Sie lebt fort in Musik, Literatur und Film: Gudrun Ensslin, die hoffte, mit Kapitalverbrechen eine falsche Gesellschaft revolutionär in eine richtige zu verwandeln. Nun ist es glücklicherweise anders gekommen, und um die Geschehnisse des Deutschen Herbstes hat sich eine Mythenschicht gebildet. Stephanie Bart hat in ihrem Roman „Erzählung zur Sache“ die Stationen der RAF-Taten bis in den Gerichtssaal in Stammheim erzählt, wo die Geschichte auf ihren dramatischen Höhepunkt zuläuft. Johannes Winter hat das Buch gelesen.

Die schwäbische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin ist die Protagonistin dieses Romans über die RAF (Rote-Armee-Fraktion, im Volksmund „Baader-Meinhof-Bande“), der ein Kapitel der Bundesrepublik namens „bleierne Zeit“ erzählt – Stichworte: Terrorismus, Isolationshaft, Hungerstreik. Eingeschlossen eine Linke, die unter dem Begriff „Sympathisanten“ die von Hysterie geprägte Stimmung nicht nur anreicherte, sondern auch auszuhalten hatte. Linker Terrorismus hatte sich mit Morden und Bomben gegen den Krieg der USA in Vietnam bzw. gegen deren Niederlassungen in der Bundesrepublik gerichtet.

Der Schriftsteller Heinrich Böll nannte, was atmosphärisch Züge eines Bürgerkrieges trug, einen Kampf von „Sechs gegen 60 Millionen“, den eine Unerbittlichkeit prägte, die wie eine Erbschaft der vierziger Jahre wirkte. Die RAF löste sich auf, verschwand. Zwar klebt ihr nach 50 Jahren längst das Label „Mythos“ an. Erkennbar kürzlich bei der Verhaftung einer ehemaligen Aktivistin. Aber der öffentlichen Reaktion darauf schien eine Art Sucht nach jenen spektakulären Zeiten beigemischt, die nicht umhinkommt, der Festgenommenen, einer 65-Jährigen seit Jahrzehnten in der Anonymität lebenden Neuköllnerin unverdrossen das Etikett eines Mitgliedes einer „dritten Generation“ anzuheften.

Stephanie Bart hat mit ihrem Roman, der nicht den juristischen Begriff „Erklärung“ im Titel trägt, sondern „Erzählung zu Sache“ heißt, keine neue Version der RAF-Geschichte mit dem Höhepunkt der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im sogenannten Deutschen Herbst (1977) vorgelegt. Vielmehr spitzt sie ihr Werk zu auf ein unerbittliches Duell zwischen „Gudrun“ und dem Gericht, welches in einem eigens errichteten Gebäude stattfand, im Stuttgarter Stadtteil Stammheim, dem Ort, der zum Synonym für eine von Gewalt und Aufregung grundierte Epoche wurde, der Ort, an dem der RAF-Prozess über die Bühne ging, das juristische Finale.

„Gudrun“ also, wie die Hauptfigur des Romans durchgängig genannt wird, Abbild einer historischen Figur, die Züge eines literarischen Alter Ego trägt, das sich, wie ein Rezensent schrieb, „mit in den Graben gelegt“ habe. Die knapp 700 Seiten sind in sieben Kapitel unterteilt, überschrieben mit Orts- und Zeitangaben wie „Heidelberg, Mai 1972“ oder „Stammheim, April 1974 bis Mai 1975“. Darunter dreimal Stammheim, der Ort des Prozesses, der zum Synonym wurde für einen Krieg der Worte, der Erbitterung, der Feindseligkeit. Welche einen Text grundieren, der von Dialogen und Dokumenten lebt, ob zitiert, ob rekonstruiert. Geleitet vom unbedingten Interesse zu erzählen, wie es tatsächlich gewesen, wie es zugegangen sei. Dabei einer Parteinahme treu, die in die Atemlosigkeit eines realen Krimis führt. Herausragend und damit der Schwerpunkt des Buches ist – im Gerichtssaal zu Stammheim – „Gudruns“ Rededuell mit dem Vorsitzenden Richter, das einerseits seine Qualität aus historischen Tatsachen, Zitaten, Hinweisen bezieht, die auch heute noch nicht ohne Verblüffung lesbar sind. Das andererseits auf unüberhörbare Weise in einer Tonart spielt, die sie, die Angeklagte vorgibt, gleichsam getrieben von der Wut, vom Hass einer Furie.

In dieser Widersprüchlichkeit entfaltet Stephanie Barts „Erzählung zur Sache“ ihren Reiz. Zumal es anregend sein kann, sich von einem Stoff irritieren zu lassen, der, mal gespenstisch, mal banal, dazu dienen kann zu verhindern, das Terrorismus-Kapitel der Bundesrepublik mit seiner Vor- wie Nachgeschichte – mit Gänsehaut – als Thriller zu rezipieren.

Letzte Änderung: 24.03.2024  |  Erstellt am: 24.03.2024

Erzählung zur Sache | © Thilo Parg, wikimedia commons

Stephanie Bart Erzählung zur Sache

Roman
678 S., geb.
ISBN-13: 9783966390781
Secession-Verlag, Berlin 2023

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