Wie ein Nagel im Hirn

Wie ein Nagel im Hirn

Valery Tscheplanowas Roman „Das Pferd im Brunnen“
Valery Tscheplanowa | © Wikimedia commons

Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa hat ihr erstes Buch geschrieben, und es überrascht nicht, dass der Gegenstand dieses Romans – mit allen Modifikationen – ihre Familie ist. Urgroßmutter, Großmutter, Mutter, Kind – vier Frauen, die unfreiwillig miteinander verbunden sind, werden charakterisiert, ihre Prägungen und Traumata nachgezeichnet. Walter H. Krämer empfiehlt das Debüt.

Schon der Umschlag des ersten Romans von Valery Tscheplanowa setzt ein starkes Zeichen und es braucht Geduld, bis man die Frau inmitten der Farbigkeit entdeckt. Das Bild stammt von Tatianan An, einer in den Niederlanden lebenden Künstlerin. Inspiriert von ihrer Liebe zum Leben, zu Menschen, zur Natur und zu allen Lebewesen drücken ihre Werke auch ihr Gefühl der Harmonie mit ihrer inneren Welt aus. Angeregt zu dieser Arbeit wurde sie von ihrer Tochter, die die ersten drei Kriegsmonate in der Ukraine verbrachte: „Jedes Mal, wenn es keine Verbindung gab, wurde mein Herz in Stücke gerissen. Noch nie in meinem Leben war ich so lange ängstlich. In diesem Bild geht es um Liebe und Sorgen um geliebte Menschen.“

Gut 190 Seiten Lektüre hat man noch vor sich, wenn man das Zitat von Greta Garbo „Wirklich reich ist ein Mensch nur, wenn er das Herz eines geliebten Menschen besitzt.“ gelesen hat. Auch dies gut gewählt von der Autorin Valery Tscheplanowa – denn darum geht es in ihrem Roman – um die Liebe und um das Geliebtwerden.
Mit dem Roman „Das Pferd im Brunnen“ – ihr Erstlingswerk – betritt Valery Tscheplanowa als Autorin sprachgewaltig und bildstark die literarische Bühne. Ihre Sprechweise auf der Bühne konnte man gerade in Salzburg (August 2023) bei einer Inszenierung von Ulrich Rasche erleben, in der sie dem Nathan eine Gestalt und eine Sprache gab, die weit über Lessing hinausging und den Abend zu einem Ereignis werden ließ.

Nun also geschriebene Sprache, mit der die Schauspielerin eindringlich und ausdrucksstark die Geschichte von vier Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts erzählt.

Valery Tscheplanowa wurde am 7. März 1980 in Kasan, Sowjetunion geboren und wuchs bei ihren Eltern in Kasan und bei ihrer Urgroßmutter auf dem Land auf. Mit acht Jahren kam Valery nach Deutschland, wo ihre Mutter ihre sprachliche und soziale Integration auf sehr ungewöhnliche Weise betrieb. Vom dritten Tag an, so die Autorin, habe sie kein Russisch mehr mit ihr gesprochen und sie einer Schar deutscher Kinder „ausgehändigt“ mit der Maßgabe, der Achtjährigen Deutsch beizubringen. Zwar sei sie für ein halbes Jahr verstummt, habe dann aber, als sie zu reden begann, sofort ein akzentfreies Deutsch gesprochen.
Rückblickend meint die Autorin, es sei die Liebe zur Sprache und der Wunsch, diese noch lebendiger werden zu lassen gewesen, die sie zum Theater geführt habe. Bei Regisseur*innen schätzt sie eine starke Handschrift und die Fähigkeit, diese auch den Schauspieler*innen zuzugestehen: „Der Regisseur baue das Haus und räume dem Schauspieler die Möglichkeit ein, es zu beziehen und einzurichten!“ Dimiter Gotscheff und Frank Castorf nennt Valery Tscheplanowa namentlich als diejenigen Regisseure, bei denen sie gefunden habe, was sie suche. Castorf beispielsweise habe die russischen Impulse, die sie einbringe, erkannt und gefördert. Erst unter ihm, an der Berliner Volksbühne, sei sie „wirklich angekommen“ als Russin in Deutschland.
Und wahrscheinlich sind es genau diese Erfahrungen, die sie ermutigten, diesen autobiographisch inspirierten Roman zu schreiben.

Die Autorin gibt tiefe Einblicke in Spielarten menschlichen Daseins, gefasst in Sätzen und Formulierungen, die sowohl vom Verstehen des Leids und der Verzweiflung zeugen, als auch von der Absurdität des sowjetischen Systems. Dabei gelingen Wortschöpfungen von beeindruckender literarischer Qualität:

„Ich glaube, Sterben ist wie ein verlorener Zahn, gestern Abend hatte man ihn noch, und heute Morgen wurde er gezogen, das ist alles.“ (Seite 16)

„Kinder, die wie festgekettet an ihren Computern saßen, schweißgebadet von ihrer Unbeweglichkeit, und mit ihrem kindlichen Fett in den Stuhl sanken. Frauen, die ihre Zähne zusammenbissen und die Bitternis ihres Alltags mit Schokoladenlikör herunterspülten.“ (Seite 42)

„Das strahlende Sonnenlicht ergießt sich in den Raum, in dem eine Bahre steht, und auf dieser Bahre liegt das Mädchen. (…). Das gleißende Herbstlicht spielt in dem unbewohnten Haar. Lena starrt lange und genießt dieses Bild wie eine verlassene Landschaft.“ (Seite 60)

„Nina wird den Rest dieser Geschichte in ihrer Fantasie auskleiden. Wie Lena sich durch Wohnheime, Jobs und Fortbildungen, Freiberuflichkeit und Sachbearbeitung graben wird, unermüdlich und tapfer, das wird sie ihrer Mutter nicht erzählen. Sie wird keine schillernde Sackgasse und keinen Anpassungsversuch auslassen, und mit weit über sechzig, wenn ihre Mutter Nina längst tot ist, wird ihr ein Satz wie ein Nagel im Hirn stecken bleiben. Ninas Satz: ‚Dein Talent reicht nur zum Entwerfen von Streichholzschachteln.‘“ (Seite 96)

„Heiter ist Nina heute, so schön aufgeputzt, nach Hause kann sie jetzt nicht. Also wird sie das ungetragene Kleid ein wenig spazieren führen und schauen, ob sie noch den Neid wecken kann in den dicken Hintern auf den Bänken.“ (Seite 143)

Aufgeteilt in mehrere Kapitel erzählt die Autorin in ihrem Erstlingswerk die Geschichten aus vier Generationen starker Frauen und ihren Zumutungen – Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter. Darunter auch die Schrecknisse des Krieges (Mitbringsel aus der Prothesenfabrik). Daneben Kapitel mit hintergründigem Humor (Neunzig Eier). Alle Facetten des Lebens, zu dem auch der Tod gehört, breitet die Autorin vor den Augen der Leser*innen aus und lässt uns teilhaben an ihren autofiktionalen Familiengeschichten. Und nicht zuletzt beschreibt sie die gesellschaftlichen Umbrüche in den 90er Jahren: „Für die Menschen aber ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?“ (Seite 107)

Alles beginnt in einer kleinen Wohnung mit Schaukelstuhl in einem russischen Kurort bei Kasan, in dem einst Stalin seine Sommer verbrachte. Hierhin kehrt Walja nach dem Tod ihrer Großmutter Nina zurück. Walja begibt sich auf Spurensuche, versucht zu verstehen, wo sie selbst herkommt. Sie erinnert sich an die Frauen, mit denen sie aufwuchs, grundverschieden, aber einig in ihrer Abscheu gegen jede Abhängigkeit: Da ist die Urgroßmutter Tanja, die Walja als Kind in einer gefährlichen Nacht-und-Nebel-Aktion taufen ließ. Und natürlich Nina mit dem zielstrebigen Gang und dem koketten Kirschmund, die notorisch log und alle um sie herum einen Kopf kleiner werden ließ. Doch sie hatte auch ganz andere Seiten. Und erst viel später erfährt Walja von Ninas hartem Schicksal, von dem sie nie sprach … Walja, die zwischen den Welten lebt, zwischen einem norddeutschen Dorf an der B77 und der Wohnung ihrer Kindheit in Kasan, erkennt immer mehr, wie tief sie diese Leben geprägt haben.

Tscheplanowas Sprache lässt eindrückliche Bilder und Assoziationen im Kopf der Leser*innen entstehen und es gelingt ihr, ohne anzuklagen, diese sie prägende Frauen zu beschreiben – die Begegnungen mit ihnen und deren Erzählungen wiederzugeben. Sie führt uns an Orte und beschreibt Lebensumstände, die uns fremd und nicht geläufig sind. Und doch fühlen wir uns diesen Menschen nah und glauben zu verstehen, was diese ausgemacht und warum sie trotz allem liebenswerte Geschöpfe waren und sind.

Und die Autorin erinnert sich auch – daher der Titel – an Geschichten, die man ihr als Kind erzählt hat. Die Geschichte von dem Brunnen, in den ein Pferd gefallen ist. Und die Vorstellung von einem Pferdegerippe auf dem Grund des Brunnens, einem Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt – diese Vorstellung und dieses Bild blieb in Erinnerung.
 
 
 
 
Die Autorin geht mit ihrem Text auf Lesereise und ist u.a. am 11.12.2023 in Frankfurt am Main im Literaturhaus zu sehen und zu hören. Ein wahrhaft doppelt sinnliches Vergnügen mit Valery Tscheplanowa.

Letzte Änderung: 27.09.2023  |  Erstellt am: 27.09.2023

Das Pferd im Brunnen | © Wikimedia commons

Valery Tscheplanowa Das Pferd im Brunnen

Roman
192 S., geb.
ISBN-13: 9783737101844
Rowohlt, Berlin 2023-09-10

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