Auf Reisen

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Zum 10. Todestag Marcel Reich-Ranickis
Marcel Reich-Ranicki | © Alexander Paul Englert

Am 18. September vor 10 Jahren starb der Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki. Er war der bekannteste Literaturkritiker Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Präsenz bei nahezu allen literarischen Wettbewerben, Jurys, Kongressen und seine virtuose, affekt- und effektvolle Nutzung aller Medien, sein redaktioneller Einfluss erst in der ZEIT, dann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schließlich sein provozierendes Auftreten als Protagonist des „Literarischen Quartetts“ im Deutschen Fernsehen trugen ihm den Titel „Literaturpapst“ ein. Eva Demski hat eine ganz persönliche Erinnerung an ihn.

Zu meinem vierzigsten Geburtstag schenkte mir mein Nachbar Marcel Reich-Ranicki sein Buch Lauter Verrisse. Mit Tesafilm hatte er über die handschriftliche Widmung ein tröstendes Goethe-Zitat aus den Maximen und Reflexionen geklebt:
Gegen die Kritik kann man sich weder schützen noch wehren; man muß ihr zum Trutz handeln, und das läßt sie sich nach und nach gefallen. Nun gut, er mußte es ja wissen. Zu der Zeit hatte er zwar Kenntnis von mir und meiner Arbeit genommen, mich zu allerlei Beiträgen in der FAZ ermuntert, aber mit dem Einordnen tat er sich schwer. Auch wenn Goethe das Handeln ihr, der Kritik, zum Trutz empfahl: so wörtlich wollte er, der Papst, es doch nicht genommen haben.
Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich wünschte mir nichts von ihm, erbat nichts, interessierte mich nicht für einen Job als Teil seines Sonnensystems. Ich zog ihn nicht zu Rate, erzählte ihm nichts von Plänen, fragte ihn nicht nach wichtigen oder nützlichen Verbindungen.
In gewisser Weise, die ich erst jetzt, lang nach seinem Tod begreife, war ich vom Beginn unserer Bekanntschaft und späteren Freundschaft an zu alt für ihn gewesen. Er hatte sich mit enormem Feuer nach seiner Jugend, die ihm geraubt worden war, eine zweite geschaffen, in diesem Papieruniversum Literatur, dessen Bewohnerinnen und Bewohner zum Alter eine besondere, sehr kindliche Beziehung haben. Als Autor kann man erstaunlich lang bei den Jungen wohnhaft bleiben, im Haus der Avantgarde zum Beispiel, aber auch an anderen Orten. Die Vaterrolle spielen die Verleger, deren Lob ersehnt wird und unter deren anderen Kindern man herausgehoben sein will.
Das galt auch, wenn der Autor achtzig und der Verleger halb so alt war.

Ein Kritiker wie Reich-Ranicki konnte in einer solchen Welt seinen zeushaften Status auf- und ausbauen, mit allen Götterdämmerungen, Katastrophen und Neugeburten, Liebe und Haß. Der Tod wurde nicht reingelassen. Die Bühnen waren PEN-Kongresse oder die notorische Gruppe 47, aber auch ehrgeizige Fernseh- und Rundfunksender und all die Symposien von Paderborn bis Princeton, die man für die Dichter und ihre Verfolger veranstaltete. Noch immer spielten sich die Dramen in einer analogen Welt ab, in der sich niemand auch nur vorstellen konnte, daß eine digitale einst alles übernehmen würde, Bühne, Text, Personal und Publikum. Dabei war sie gar nicht mehr weit weg.

Ich sah beide Reich-Ranickis oft, Tosia und Marcel, wir luden uns gegenseitig ein, waren allmählich befreundet miteinander, und ich hörte aufmerksam zu, wenn er lobte oder tobte. Hinter seinem nach vorn geworfenen Temperament lauerte still ein kühles Beobachten: Wie weit ließ das Gegenüber ihn gehen? Wie waren die Reaktionen? Wem wurde was kolportiert? Sein Vordergrund war intellektuelle Klatschsucht, sein Hintergrund Diskretion. Er behielt viel für sich. Bei anderen haßte er Verschwiegenheit und hielt sie für infam ihm gegenüber. Das beeindruckte mich nicht. Im Klappehalten war ich geübt. Manchmal machte er darüber Bemerkungen, die auf meine verdächtigen politischen Neigungen zielten.
Faß dich an deine eigene Nase, sagte ich. Kommunist und was nicht noch alles.

Dann lachte er.

Wir mochten die gleichen Klassiker, standen mit beiden Beinen im Heine-Lager, Hölderlin ließ uns ratlos. Er machte aus seinen Abneigungen Pamphlete und liebte unpassende Gelegenheiten, zu denen er sie herauskrähen konnte. Der Bad Homburger Hölderlin-Preis vor Jahrzehnten war so eine: Zum Schluß seiner sogenannten Laudatio waren Preisnamensgeber und Preisträger völlig zerfleddert, und der Oberbürgermeister wahrte nur mühsam seine Fassung.
Zeit seines Kritikerlebens hat er, glaube ich, eine Experimentalreihe durchgeführt, als deren Ergebnis er die Mängel der Branche notierte. Devotheit, Ruhmsucht, Geldgier, Kleingeistigkeit und Mangel an Solidarität, Verrätertum. Und nicht zuletzt, immer und immer wieder, Mangel an Begabung. Oder an Ernsthaftigkeit, Durchhaltevermögen. Und, bei ihm ein todeswürdiges Verbrechen: Mangel an Unterhaltsamkeit. Langeweile hieß seine Vorhölle. Dafür wurde er gehaßt, verachtet und umschwärmt. Wie ein Kind konnte er über die Hartnäckigkeit staunen, mit der manche Literaten ihm ihren Unmut nachtrugen. Sie waren trotz allem seine Götter, das wußten sie doch! Er machte beileibe nicht das gleiche mit ihnen, im Gegenteil: Neues Spiel, neues Glück! Und dieses Spiel war viel zu spannend, als daß man nachtragend sein durfte.
Es war seine Welt, sie war sein Seinsgrund und seine einzige Existenzform, er liebte sie und wußte um ihre Dekadenz, nicht ohne sie auszunutzen und sich ihrer zu bedienen. Teile und herrsche!
Gegen Verführungen war er überhaupt nicht immun und sammelte in seinen späteren Jahren Ehrendoktorate wie Schutzbriefe gegen die lebenslange Kränkung, daß ihn keine Akademie hatte haben wollen. Irgendwelche Medaillen, Porzellanfiguren oder sonstigen Staubfänger minderer Herkunft waren ihm suspekt, das goldene Reh aber nicht. Er wollte geliebt werden, respektiert, verstanden und nicht zuletzt geehrt. Im übrigen gehörten gute Honorare zur Ehre, man war entweder teuer oder Benefiz, dazwischen gabs nichts.
Ich wohnte nicht dauernd in dieser Welt, war nur gelegentlich und mit vielen Vorbehalten im Papieruniversum zu Besuch und stieß mir trotz aller Distanz gelegentlich die Schnauze blutig, wie nicht anders zu erwarten.

Letzte Änderung: 17.09.2023  |  Erstellt am: 17.09.2023

Gemälde von Rudolf Küfner | © Foto: Eva Demski
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Kommentare

Karlheinz Braun schreibt
Was für eine schöne glänzend formulierte Erinnerung. Da könnte einem MRR fast sympathisch werden.

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