Auschwitz lebt in uns

Auschwitz lebt in uns

Gedichte sind das Gegenüber
Dem deutschen Volke

Die Deutschen sind bekanntlich eine ungeplante Mischung aus vielen Ethnien und Kulturen. Was hat es also mit der deutschen Identität auf sich? Was ist eine Kulturnation? Spätestens mit der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 gab es neben dem völkischen Deutschtum auch immer wieder Zweifel an dieser Zuschreibung. Die Shoa, sollte man meinen, habe uns zu einem neuen Selbstverständnis bewogen. Die Reflexionen Matthias Buths zeigen aber, dass die Geschichte komplizierter ist.

Auch am 27. Januar 2020 – im Beethoven- und Hölderlin-Jahr – sprachen sie wieder zu uns, alle sechs Millionen, die aufgegangen sind im Rauch der Verbrennungsöfen von Auschwitz und seinen Geschwistern auf der Landkarte Europas, eingebrannt in die Gedächtnishaut der Deutschen, jetzt und immer.

Immer am 27. Januar kommt der Deutsche Bundestag zusammen, damit die Abgeordneten – Vertreter des ganzen Volkes, wie es Artikel 38 des Grundgesetzes sagt, zu gedenken für alle Deutschen und für unseren Staat, der die Sprache „Deutsch“ im Namen trägt, kein Irgendwo-Land, für Deutschland. „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche“, so begann Charlotte Knobloch am 27. Januar 2021 ihre Rede im Reichstagsgebäude in Berlin. Ein Satz wie eine Fanfare aus eine Mahler-Symphonie. Wer könnte ihn sonst aussprechen?

Die Fahnen klirren im Wind, wenn die Ode uns niederringt, uns vor Augen und Ohren führt, welch umarmende Gedichte und welch zärtliche Musik nie geschrieben und komponiert worden sind, wie sehr sich Beethoven und Hölderlin schämten, wüßten sie, was unsere Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter taten und unterließen und wie sehr die Enkel und Urenkel immer noch wegsehen, nicht wahrhaben wollen, verschweigen und verdrehen, was in den meisten Familien bleiben wird: das Singen und Klagen, das Bitten und Flehen unserer Brüder und Schwestern, die nicht sterben wollen, die immer noch nicht sterben wollen, die bei uns bleiben. Sie sind uns näher als unsere Eltern, die von uns gegangen sind in den Zinksärgen des Schweigens, unfähig zu trauern, über sich und über unsere so nahen Nachbarn, den wortreichen Geschwistern. Sie hören uns zu.

In welchem Land? In Deutschland, das für manche unauffindbar bleibt, das aber uns mitgegeben ist, da wir nicht flüchten können vor uns selbst, vor dem Land, das uns durch seine Sprache den Namen gibt. Bundesrepublik Auschwitz? Nein, das wäre eine poetische Vereinnahmung, dieses Land in Wolken und Rauch gehört nur den Opfern, den Dahingestreckten und Gequälten, denjenigen, die überlebten, die über-leben mussten und sich tagein, tagaus fragten. „Warum ich? Warum nicht meine Familie, meine Eltern, Geschwister?“ Die Rettung als Mühlstein im Weiterleben. Vielen in Israel ging und geht es so, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Polen, in Frankreich und besonders in Deutschland. Weiterleben. Eine Jugend, so heißt das Lebens- und Überlebensbuch von Ruth Klüger aus dem Jahre 1992. Weiter, – ja, aber leben, was ist das Leben nach dem KZ, nach Auschwitz, der Name, der alle Todesstätten mitbenennt und immer in den Namen Deutschland eingebrannt ist. Wer als Deutscher nach Israel fährt, ja pilgert, kommt nach Jerusalem, in die Stadt der Städte, weil es das himmlische Jerusalem mit aufrufen will, er geht nicht nur zum Rest des zerstörten Herodes-Palastes – zur Klagemauer, er muss auch nach Vad Yschem, kommt im den Saal mit dem ewigen Flamme und liest im Boden alle Schreckensnamen von den Orten, welche die Sprache auslöschen könnten, wo das Verstummen nicht leise genug ist und Scham und Tränen jeden überkommen, der sich ein menschliches Gemüt erhalten, besonders wenn er aus Deutschland den Weg hierher gefunden hat.
 

Die Botschaft

Und wie stehen wir Deutschen heute vor Auschwitz? Was sagt die Bundesregierung, was lässt sich überhaupt staats- und völkerrechtlich verbindlich sagen?

Am 8. März 2008 erklärte Bundeskanzlerin Merkel vor dem israelischen Parlament, der Knesset: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Seitdem wird über diese Äußerung nachgedacht. Es ist gut, wenn sich die Spitze der Bundesregierung in Israel zu dem völkerrechtlichen Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel äußert und sich zur historischen Verantwortung Deutschlands bekennt. Aber Staatsräson? Was für ein Begriff einer deutschen Regierungschefin in der Knesset! Das Grundgesetz nennt ihn nicht, weder in der Präambel noch in den Grundrechten und auch nicht in den Artikeln zur Staatsorganisation. Staatsräson als deutsches Prinzip gerade in Israel zu benennen, muss erstaunen, ist doch dieses Begriff Ausdruck für das Interessenkalkül eines Staates, sich unter allen Umständen selbst zu behaupten, auch gegen die Interessen seiner Bürger, also alle beliebigen Mittel zum Selbsterhalt anzuwenden. Aber diese aus den Gedanken von Machiavelli entwickelten Prinzipien kommen aus dem Selbstgespräch der Bürger bzw. der Regierung mit diesen oder auch nur – selbstreferentiell – der Regierung mit sich selbst. Eine Adressierung an einen anderen Staat ist damit nicht gegeben. Im Schauspiel „Antigone“ von Sophokles (und in der Umdichtung von Jean Anouilhs (1910-1987)) wird der Begriff der Staatsräson ausgeleuchtet im Machtanspruch von König Kreon (im Verbot, Polyneikes, den Bruder Antigones, zu begraben), denn ein Staat will immer die Macht, und er will sie er-halten, auch gegen die Menschen und gegen die Humanität. Die Staatsräson richtet sich also immer nach innen.

Angela Merkel reduzierte ihre Äußerung auch noch, indem sie auf sich als „deutsche Bundeskanzlerin“ verwies, also nicht in Ausführung eines Mandates des Deutschen Bundestages sprach. Ratlos machte dann vollends die inflationär gebrauchte, indes gerade in Israel zu vermeidender Floskel „nicht verhandelbar“. Was sollte denn verhandelt werden? Israel ist nicht Mitglied der Nato, also Teil der kollektive Sicherheitsgemeinschaft des Westens. Heißt „nicht verhandelbar“: Darüber rede ich nicht? Mit wem denn: mit den arabischen Staaten, mit den Bürgern in der Bundesrepublik, mit Israel?

Und so konnte die in der Knesset geäußerte Staatsräson Deutschlands keine Wirkungen entfalten; es war der falsche Begriff. Gemeint war eine politische Bindung aus geschichtlicher Verantwortung, die sich aus dem Verständnis Deutschlands, das sich ja bundesgesetzlich als „europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich demokratischer Rechtsstaat“ (so die Selbstbeschreibung der Bundesrepublik in § 4 Deutsche Welle-Gesetz) versteht. Aber warum hat der Deutsche Bundestag bisher noch keine fraktionsübergreifende Resolution analog der Erklärung zum Völkermord an den Armeniern vom 2. Juni 2016 beschlossen, warum wurde Auschwitz im Sinne einer Grundbestimmung Deutschlands vom Deutschen Bundestag nicht definiert im Hinblick auf die besonderen Beziehungen zu Israel und dessen Existenz, umgeben von 22 arabischen Staaten, welche immer noch die Zerstörung dieses Staates als Staatsziel definiert haben (wohl auch in Konsequenz der judenfeindlichen Suren im Koran) und in Landkarten zum Vorderen Orient Israel gar nicht (mehr) aufführen? Auf den 27. Januar als Gedenktag an dem Holocaust kann insofern nicht verwiesen wer-den, denn dieser Tag erinnert an die Befreiung des KZ Ausschwitz durch die Rote Armee, sagt aber nichts zu unseren völkerrechtlichen Beziehungen zum Staat Israel. Würde Deutschland im Fall des Angriffs auf Israel diesen Staat durch die Bundes-wehr verteidigen? Könnte es die Bundesrepublik Deutschland überhaupt, eingebunden in das kollektive Sicherheitssystem der Nato? Wohl nicht. Und: Wollte Israel überhaupt von Deutschland verteidigt werden, wäre das nicht eine politische Anmaßung der Bundesrepublik, die das jüdische Volk und alle Israelis in Hader brächte?

Bedenkt man all dies, verblassen die Kanzlerinworte von 2008 immer mehr. Form ist höchster Inhalt, wußte der Jurist und Dichter Andreas Gryphius. Diese Erkenntnis gilt auch in der Politik. Und ein leeres Wort entwertet die Botschaft.

Allerdings war die 16 Jahre regierende Bundeskanzlerin Merkel durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Bundesrepublik Deutschland auf Geschichte gegründet ist, auf alle Teile und Epochen der deutschen und europäischen Geschichte und eben auch und besonders auf Auschwitz, das Schreckenswort aller Deutschen. Dies hatte sie bei dem Besuch des ehemaligen KZ im südlichen Teil Polens am 8. Dezember 2019 mit dem Satz „Die Erinnerung an Auschwitz ist Teil unserer nationalen Identität“ zum Ausdruck gebracht. Identität ist immer eine Geistesanstrengung auf den Gleisen der Erinnerung. Nur sie führt zu uns als Staat und Nation, ja auch als Nation, diesem Begriff, dem wir nicht entrinnen können, nicht weg-europäisieren können, wollen wir wahrhaftig sprechen.
 

Sprachverlust

Wir Deutsche müssen weiter auf uns selbst zugehen, müssen versuchen, einige Begriffe in die Gegenwart hinüberzuretten, wissend, dass dies nicht vollends gelingen wird. So ist der Begriff „Anstand“ nach der abgrundtief perversen Posener Reden des sogenannten Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 4. und 6. Oktober 1943 im politischen wie umgangssprachlichen Gebrauch obsolet. Dieser Begriff ist entschwunden aus der deutschen Sprache. Wer ihn dennoch benutzt, weiß nichts von der deutschen Geschichte oder ist ein Nazi. Beides ist schlimm und verletzt. Denn die von Himmler begründete NS-_Ethik der Anständigkeit_ (Harald Welzer) wirkt nach und transponiert das Verbrechen auf einen „geheiligten Zweck“, dem Gehorsam geschuldet war. Uns ist heute der Begriff des Anstands entwunden, noch lange. Wer den Dokumentarfilm von Vanessa Lapa „Der Anständige“ (aus dem Jahre 2014) gesehen hat, wird zustimmend schweigen.

Kann man mit Auschwitz überhaupt sprachlich so umgehen, dass den Millionen Toten aus vielen Nationen, zu denen auch etwas 500.000 Sinti und Roma gehören, kein sprachliches und so politisches Unrecht zufügt wird, dass diese Nachbarn, Mitbürger und Mitmenschen nicht vereinnahmt, aber auch nicht ausgrenzt werden? Seit 1951 wird in Wissenschaft und Literatur das Dictum von Theodor W. Adorno hin- und hergewendet, befragt, ihm entgegnet und erörtert. Und das nun vor der bangen Frage, was denn nach über 80 Jahren bleiben wird, welche Mentalitäten bei jungen Menschen in Deutschland sich noch gründen auf Auschwitz. Adorno veröffentlichte 1951 den soziologischen Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“, an dessen Ende er schrieb: „Kulturkritik findet sich auf der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Im Aufsatz „Meditationen zur Metaphysik“ führte er dann aus: „Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren…. Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.“

Adorno wusste um die Wortmacht seines Dictums, so sehr, dass er fast davon erschreckte und den Satz auflöste, ihn zumindest etwas an Atemraum zurückgab. Und er sah wohl auch die sakrale Dimension seines Satzes, der wie eine Gesetzestafel wirkte und den Namen Auschwitz zu einem Urbegriff des Unbegreiflichen machte, als etwas, was sich der Sprache entzieht. Der Name bleibt. Immer. Auch der eigene. Der von Gott Geliebte, das heißt Theodor, und das Kürzel „W.“ steht für Wiesengrund. Schon diese beiden Namen von Adorno machen die Tragik und die Erkenntnis, nicht entrinnen zu können, deutlich. Man wird sich nicht los im Verbund mit der Geschichte eines Volkes, man kann nicht die eigene Geschichte und Kultur verlassen. Die Sprache läuft mit, ja sie ist vielleicht das eigentliche Asyl, das sichere Exil und für so große Dichter wie Heinrich Heine das mitziehende Vaterland oder – wie Rose Ausländer dichtete – das Mutterland, das Mutterland Wort.

Und so wurde und wird weiterhin gedichtet, hat das Gedicht als innigste Sprachform, so geschwisterlich verwandt mit dem Gebet, seine Anziehung nicht verloren. Auschwitz Sprache zu geben, ist fast unmöglich. Aber es ist gelungen durch Nelly Sachs und Paul Celan. Im Jahre 2020, im Beethoven und Hölderlin-Jahr wurde auch der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Paul Celan, 1920 geboren in Czernowitz, gedacht besonders in Deutschland, Österreich, eindrucksvoll und umfassend in der (heute ukrainischen, damals rumänischen) Geburtsstadt des Dichters, aber auch in Frankreich und in Rumänien. 1970 folgte er seinen Verzweiflungsdichtungen, ging in die Seine, in jenen Fluss, der auch eine Lebensader der Poesie ist und tote Dichter nicht vergisst. Celan wusste, wie sehr sich das Deutsche – eine Sprache, an der er trotz des Holocaust oder hinsichtlich des jüdischen Volkes, genauer der Shoa festhielt – auf die Musik gründet, die ohne die Reformation auch Johann Sebastian Bach nicht oder nicht so hervorgebracht hätte. Musik ist der Cantus firmus der Deutschen, in den sie sich flüchten wie in eine feste Burg, die dennoch flieht in Klängen, die vergehen, verwehen: ein Paradox, auf das ein Dichter wie Celan zugeht. Die Fuge ist der Klang, aus dem Bach kommt. Und Celan nennt das wichtigste Gedicht nach Auschwitz, jenes das aufnimmt, erfaßt und erschüttert, „Todesfuge“. Es ist das Gedicht, das emotional und auch geschichtlich Deutschland fast mehr und tiefer begründet als das Grundgesetz. Es bleibt und hat eine geheime Widmung. Es ist dediziert „Dem deutschen Volke“, jenen drei Worten auf der Stirnseite des Reichstaggebäudes, wo der Deutsche Bundestag zusammenkommt. Das Unbegreifliche ist, dass diese große Dichtung zu und über eines der größten Menschheitsverbrechen und leider immer mit dem Adjektiv „deutsch“ verbunden, auch all das zum Ausdruck bringt, was sich in dem Wort „schön“ sammelt. Aber darf denn ein Gedicht über das Grauen, über den Abgrund des Menschen, die Dimensionen der Schönheit erreichen? Schon 1912 schwingt Rainer Maria Rilke poetisch in diese Frage ein mit dem Anfang der ersten „Duineser Elegie“:

Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.

Der Tod ist eine Umarmung in die Leere, sie erfasst nichts. So äußert sich Verlorenheit und Verwundung wie ein stummer Schrei, der über das Schöne hinausreicht.

Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
Wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
Wir trinken und trinken
Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

So beginnt das Gedicht, das uns Deutschen eingeschrieben ist wie das Bonner Grundgesetz.

Und weiter heißt es:

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Diese Zeilen sind deutsche Verse, sie meinen uns, noch immer, und mit Blick auf den Putinischen Krieg in der Ukraine kommen sie an anderer Uniform wieder auf uns zu.

Dieses Gedicht verfaßte Paul Celan im Jahre 1945 und es wurde noch vor der Gründung der beiden Staaten in Deutschland – der BRD und der DDR – drei Jahre nach dem Ende des NS-Staates im Jahre 1948 im Band „Der Sand aus den Urnen“ veröffentlicht. Die „Todesfuge“ ist ein Gründungstext für Deutschland und prägend für die beiden deutschen Staaten, die erst am 3. Oktober 1990 zueinander fanden. Dieses deutsche Gedicht bleibt in uns, im Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland, es ist der Basso continuo aller folgenden Lyrik. Diese Elegie mit dem Schmerzensvers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat einen Duo-Partner im Lyrikband „In den Wohnungen des Todes“ der großen deutschen Dichterin Nelly Sachs. Sie hat diese Gedichte 1947 veröffentlicht und ebenso mitnehmend und ergreifend wie der Mann aus der Bukowina gedichtet.

O DIE SCHORNSTEINE

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?


O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

Auch diese Zitate aus den Dichtungen von Nelly Sachs bleiben uns nah. Geschichte ist immer Gegenwart, besonders, wenn sie in Gedichten gefaßt ist.

Die Lyrik von Celan und Sachs nobilitiert die deutsche Sprache. Und sie ist alles, was wir wirklich haben oder haben sollten, denn erst sie macht uns zu Sprachbürgern und Menschen, die sich und ihrer Geschichte nicht ausweichen.

Nelly Sachs spricht in ihrer Dichtung von den „Wohnungen des Todes“. Wer denkt da nicht an Psalm 84 (2.3.5), den Johannes Brahms im Trauergesang „Ein deutsches Requiem“ in Klang gesetzt hat, der vergleichbar schöne und innige Verse aufgreift in den Bibelworten: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn.“ Die Verse von Celan und Sachs sind in ihrer dichterischen Schönheit und Intensität auch tröstend, sie sprechen den Trost nicht an, aber mit dem Benennen von Sulamith, Hiob und Jeremias wächst beim Leser so etwas wie Trost oder er fühlt sich in den Arm genommen von diesen schwarzen Strophen. Bei den von Brahms zusammengestellten Bibeltexten ist denn auch ein Höhepunkt die Zeile aus Jesaja 66,13: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Im Dreiklang Celan-Sachs-Brahms kommt etwas auf uns zu, das den Schrecken in Kunst wandelt, ausgehend von den sprachlichen Ebenen des Alten Testaments bzw. des Talmuds. Aber ist das so zulässig, darf sich das Grauen, darf sich der Tod in Kunst wandeln? Wird damit auch Auschwitz ästhetisiert und damit den Opfern etwas von Gedächtnis, Würde und Zuwendung genommen?

Zauberkundig

plötzlich der Weißdorn ist außer sich
plötzlich vom Tod in das Leben geraten –

so dichtete Nelly Sachs weiter, also wollte sie auf diese Fragen antworten. Die Millionen Gemordeten und die wenigen Überlebenden, die nun fast alle – bis auf wenige willensstarke Menschen wie Philomena Franz aus Rösrath und Bergisch Gladbach – nicht mehr da sind, klammerten sich ans Leben, wollten nicht in Rauch aufgehen. Grabsteine, besonders jüdische, sind Denkzeichen, Überlebensmale im Tod. Und so ist der Tod Teil unseres Lebens und so sprechen die Toten zu uns, bleiben sie in unserer Mitte. Aber wir müssen es wollen und unsere Erinnerungen nicht verkorken, sondern hineinnehmen in Verse wie

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

So endet das Gedicht „Ein Winterabend“ des Salzburgers Georg Trakl, fern der Shoa, aber nah dem Tod und dem Sterben, aus dem die Verheißung von Leben hindurchleuchtet, entzündet auch von Hölderlins Elegie „Brod und Wein“. Die Dichtung will nicht sterben, sich nicht zu den Toten legen und völlig verstummen, sie will eher Membrane zwischen Leben und Tod sein und so hörbar machen, was die Toten uns zuflüstern. Und so dichteten auch Paul Celan, Rose Ausländer und Nelly Sachs wie alle Dichter, die sich ihren Atem- und Überlebensraum schufen durch das Gedicht. Wie sehr Gedicht und Gebet verschwistert, ja, oft eins sind, und tief in Dimension von Sprache und Gott hinablotet, macht Celan deutlich im Vers, der bei jüdischen Dichtern immer mitgemeint ist: Jerusalem.

DU SEI WIE DU, immer

Stant up Jherosalem inde
Erheyff dich


Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin
Sowie „es stand Jerusalem um uns“

Der Dichter der „Todesfuge“ nimmt durch die Kursivschreibung wörtlich Bezug auf den deutschen Mystiker Meister Eckhart, dessen mittelhochdeutsche Sprache er sich anverwandelt und dessen lyrischen Mystik er weiterspinnt. Jüdische und christliche Sprach- und damit auch Gotterfassung begegnen sich. Wo Eckhart seine Gott-Rede ins „Eins-Nichts“ münden lässt, wird Celan wie ein Liebender konkret in der Anrufung „DU SEI WIE DU“. Jerusalem ist der Ort des Bundesbandes zwischen Gott und Israel. Gott bleibt, auch wenn das Band zerschnitten wird.
Und so ist Gott geblieben – auch in Auschwitz. Und so ist Gott der eigentliche Dichter, Betende und Liebende.

Kann man in diesen Zusammenhang, in diese Dichtung von und über Auschwitz Philomena Franz einbezogen werden, sie, die Sintiza, die Autorin von Prosaminiaturen, Gedichten und Selbstzeugnissen?

Philomena Franz

Leben und Schreiben waren bei dieser ebenso mütterlichen wie mutigen Frau, die 27. Dezember 2022 gestorben ist, eins, unverstellt und getragen von einer erdwarmen Noblesse, die einfängt. Ihre Schriften primär literaturwissenschaftlich einzumessen, um so irgendwo in die deutsche Nachkriegs- und Auschwitzliteratur zu verorten, würde ihr nicht gerecht, nicht weil sie etwa aus den Maßstäben fiele – das tat sie nicht –, sondern weil ihre Lebensweise (welch schönes Wort, das von Weisheit und Weise, vom Lied ahnen lässt) eine Grandezza umspielte, die außerhalb der bekannten Kriterien liegt. Philomena Franz war immer ganz bei sich selbst, wollte keine besondere Schriftstellerin sein („ich bin keine große Literatin“, sagte sie mir einmal), insofern war ihr Werk im besten Sinne eigenständig und von einer Innigkeit, gelegentlich von volksliedhaftem Schweben und einer klaren Gottesnähe, die unmittelbar ansprechen und erfassen. Kann man so schreiben? Ja, so offen ist die deutsche Sprache, die ihr nicht die Sprache der Mörder ist, sondern die gute Ebene, um sich zu finden und zu erhalten.

„Wenn es mir zu laut in der Baracke wurde, wenn zu viele Menschen um mich herum waren, als daß ich beten konnte, ging ich hinaus. Zwei Baracken standen schräg zueinander, so dass ein Winkel entstand. Hinter ihnen verlief der Stacheldrahtzaun. Ich setzte mich in die Ecke auf den Boden und lehnte mich an die warmen Bretter. Das Frühjahr kam. Die Luft war bereits mild. Dort sprach ich mit Gott. Ich klagte ihm mein Leid und bemerkte, wie es mir während des Gesprächs schon besser ging und wie ich zufriedener wurde. Ich schloß die Augen und betete: ‚Es ist furchtbar. Ziellos und hoffnungslos. Es gibt kein Gericht, kein Ort, nirgendwo, wo man für sein Recht sprechen könnte. Ich habe Angst vor der Krätze, an der Menschen verenden, Löcher in sich, stinkend, ohne Salbe. Lieber Gott, mögest Du mich verschonen. Aber ich verlange nichts von Dir.’“

Unprätentiös, aber genau und weich, wie Matthias Claudius im „Abendlied“ schrieb die Autorin, die 1922 einhundert Jahr alt wurde, über ihre KZ-Zeit als Zwanzigjährige. Im lyrischen Aperçu

DU BIST

Du bist
Wie in meiner Hand ein Kind
Zu dem ich spreche

sprach sie zu Gott und Gott zu ihr. Solche Verse und Zeilen haben die Leichtigkeit mancher Poeme Rose Ausländers (geb. 1901 in Czernowitz, gest. 1988 in Düsseldorf), auch deren Familie wurde ermordet. Juden und Sinti verband das Sterben, das Unbehaustsein, das Unterwegs, der Mangel an Heimat. Aber auch der Lebenswille. Philomena schrieb: „Die Sinti wurden über Jahrhunderte verachtet. Ich denke, daß man dadurch sensibler wird.“ Eine grandiose Erkenntnis: Und wer wollte widersprechen, daß das Leiden die Gefühle öffnet – für Schmerz oder diesem gegenüber für Gerechtigkeit und Glück? Diese Sensibilität durchzog ihre Texte, die vor allem deshalb so anschmiegsam und herznah sind, weil sie der jahrhundertalten Tradition der Mündlichkeit folgen. Und so sind ihre Zeilen wie hingeworfen, frei von jeglicher Verstiegenheit und literarischen Profession und gerade deshalb literarisch bedeutsam und schön. Nicht wenige Text hat sie nicht nur handschriftlich verfasst, sondern – als die Mühen des Alters durch die Glieder zogen – Sidonia Bauer diktiert. Und so war sie eine Märchenerzählerin inmitten einer Familie von Worten und Erinnerungen. Ausschwitz wird dabei nicht weichgezeichnet, sondern in aller Grausamkeit erfaßt. Aber ihre Hand war nie eine richtende, sondern immer die einer Verzeihenden. Wenn das Wort Liebe in seiner tiefen Dimension eine Beglaubigung suchen wollte, es hätte bei Philomena Franz anklopfen können. Bei ihr wurde immer eine Türe geöffnet. Nach Auschwitz nicht vollends zu verzweifeln, nicht zu hassen, sondern den Blick hinaus in eine andere Welt zu wagen, gelingt nur Menschen von seelischem und geistigen Format. Wer an Gott zweifelt, wer sich fragt „Wo war Gott in Auschwitz?“, wer an nichts mehr glauben kann und will, der wird durch das Leben und Wirken dieser Frau getröstet.

Als ich sie fragte, ob sie sich nur als Sintiza und nicht auch als Deutsche verstehe und empfinde, war sie geradezu entrüstet. „Natürlich bin ich Deutsche. Deutschland ist mein Land, auch wenn ich durch meine Familiengeschichte sehr mit Frankreich verbunden bin.“ Wer solche Sätze hört, kann zwar als Deutscher nicht aus dem Schlagschatten der KZ heraustreten, aber er fühlt sich umarmt, so, als könne er zusammen mit ihr einen hellen Schimmer am Horizont sehen, ein Licht, das aufnehmen will. Vor Jahren, sie war noch Bürgerin von Rösrath, schlug ich dem Stadtrat vor, sie zur Ehrenbürgerin zu ernennen. Als ich gefragt wurde, was sie denn für die damalige Gemeinde und heutigen Stadt Rösrath getan habe, war meine Antwort einfach: Sie hat uns Deutschen die Treue gehalten, hat uns – ihre Mitbürger – nicht in Grund und Boden verurteilt, sondern Haß, Mord, Vernichtung ihrer Familie, ihres Volkes mit dem Kostbarsten, zu dem ein Mensch fähig ist, aufgewogen: mit Liebe und Zuneigung, mit Verzeihen und nobler Mitmenschlichkeit. Für den Rat der Stadt Rösrath waren dies Kriterien außerhalb der Hauptsatzung. Bis heute.

Für Sinti ist Indien immer ein Bezugsland, es ist nicht so fern wie es die Landkarte vermittelt. Etwas „darzustellen“, einen Rang in der Gesellschaft zu haben, im inneren Kreis der Sippe und darüber hinaus, ist Leitmotiv. Dieser Blick entfaltet etwas Märchenhaftes, Exotisches. So schrieb Philomena Franz: „Ich weiß, daß wir damals flüchteten über die Seidenstraße nach Europa. Das erzählte mein Großvater. Und daß wir eine gehobene Familie in Indien waren, als die Engländer eindrangen – und sie verfolgten den Adel. Die Großväter des Großvaters waren große Fürsten, Maharadschas.“ Wer sein Herkommen aus alten adeligen Familien ableitet, sieht seine Mitmenschen anders, Demut und Selbstherrlichkeit verbinden sich. Und so erklären sich manche Wesenszüge der Autorin, besonders die Fähigkeit, sich selbst zu behaupten, Mut und Stolz zu zeigen sowie musische Fähigkeiten als Sängerin, Tänzerin und Erzählerin öffentlich zu präsentieren. Und beim königlichen Hofe in Stuttgart aufgespielt zu haben, war ihr eine selbstverständliche Geste und entsprach der Professionalität der Musikerfamilie Franz.

All das mag sie innerlich stark gemacht haben zu überleben, das Grauen, die tägliche Todesangst und die Ermordung ihrer Mitgefangenen und Familienmitglieder zu ertragen. Daß es ihr gelungen ist, bleibt ein Wunder. „Die schönen Bilder sind verschwunden / an ihnen haben sich die Nazis vergriffen“, schrieb sie. Und dennoch müssen ihr innere Bilder geholfen haben zu ertragen und nicht zu sterben („nichts ist uns geblieben / als die Bilder der Gestapo“). In den ersten Nachkriegs- und Nach-KZ-Jahren waren die schönen Bilder vom Leben verlöscht, war das Trauma der furchtbaren Erlebnisse präsent. Dass sie ohne Hilfe zum Wiederaufbau der seelischen Landschaft, der Psyche und der Physis, also all dessen, was man heute als posttraumatische Belastung bezeichnet, in der Lage war, zeigt, was für eine starke Persönlichkeit sie war. Und diese ruht in der Familie und immer auch in Gott. Die geradezu mädchenhafte Frömmigkeit, durchwirkt von einer großen Liebe zur Natur und zu ihren Freunden, charakterisierte sie. Stolz und Demut bilden die Seelenachsen durch ihr Leben.

Ihre Schriften in Prosa und Lyrik sind Dokumente eines tapferen Geistes, voller Grazie und Würde.

Unrecht und Recht

Über die deutschen Konzentrationslager wird noch lange gesprochen, sie gehören zur staatlichen Erinnerungspolitik und sind integral für unser Verständnis als Staat und Nation. Der Deutsche Bundestag hat erst spät begonnen, sich diesen Fragen zuzuwenden. Ausgangspunkt war die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Diese wäre so nicht gehalten worden, wäre nicht bereits Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Mahnmal zum Warschauer Ghetto-Aufstand auf die Knie gefallen, überwältigt von Scham, Verzweiflung und Verantwortung der Deutschen. Beide Repräsentanten des deutschen Volkes haben uns den Blick nach innen, zur nationalen Scham und geschichtlichen Verantwortung geöffnet sowie am 8. Dezember 2019 Bundeskanzlerin Merkel, als sie die Gedenkstätte Auschwitz besuchte und dort sagte, daß „Auschwitz Teil der deutschen Identität“ sei.

Aber zum Blick nach innen gehört auch, sich klar zu machen, in welcher umfassenden Weise die deutsche Strafrechtspflege versagt hat bei der Verfolgung und Verurteilung all derjenigen Personen in den Vernichtungslagern, die den millionenfachen Völkermord durchführten als Mittäter und als Gehilfen; wobei das Wort „durchführen“ bereits erschauern läßt.
Die strafrechtlichen Bedingungen stellten sich wie folgt dar:

Schuld und Sühne bestimmen das deutsche Strafrecht. Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ ist Gesetz geworden in § 1 Strafgesetzbuch, der Täter kann also nur bestraft werden nach der bereits vor der Tat bestehenden Strafnorm, es gilt das Rückwirkungsverbot. Die Strafrechtstheorie fragt nach dem Sinn und Zweck des Strafens und zieht einen Bogen von Immanuel Kant und Friedrich Hegel, die moralische (göttliche) Gerechtigkeit und menschliche (irdische) Zweckmäßigkeit verbinden wollten, zu verschiedenen Sühnetheorien, welche das Bundesverfassungsgericht 1977 in die Formel präzisiert hat, wonach Aspekte für eine angemessene Strafsanktion „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht“ seien. Im Lissabon-Urteil von 2009 hat das höchsten deutsche Gericht markant formuliert: „Es gehört zu den Aufgaben der Strafe, das Recht gegenüber dem vom Täter begangenen Unrecht durchzusetzen, um die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken.“

Sieht man – auf dem Leuchtturm solcher Rechtsphilosophien stehend – auf diejenigen, die den Mordapparat des NS-Staates organisiert und betrieben haben, im Kontext der Strafverfolgung nach 1945, muß man hinsichtlich des Völkermordes an Juden sowie Sinti und Roma an manchem zweifeln, was den Rechtsstaat ausmacht.

Ausgangspunkt für die Verfolgung des NS-Unrechts waren die sogenannten Nürnberger Prozesse gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ vor dem Internationalen Militärgerichtshof nach dem Londoner Status bzw. nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10. Vom 10. November 1945 bis zum 14. April 1949 wurde verhandelt und dann geurteilt.

Es wurden Taten angeklagt, die ihren Schwerpunkt in Kriegshandlungen hatten, also Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit. 185 Personen (35 Ärzte und Juristen, 56 SS-Offiziere, 42 Industrielle, 26 militärische Führer, 22 Minister und hohe Beamte) wurden angeklagt. 24 wurden zum Tode verurteilt, 20 zu lebenslanger Haft, 98 zu Zeitstrafen von eineinhalb bis 25 Jahren.

Strafverfolgung und Urteile gründete sich hinsichtlich der Taten des Holocaust’ auf das Prinzip „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, ein auf Humanismus und Naturrecht basiertes Rechtskonstrukt, das angelehnt war an die Haager Landkriegsordnung von 1907 und das Völkerstrafrecht. Der Völkermord in den deutschen KZ wurde jedoch als Kriegshandlung betrachtet und eben nicht in seiner Singularität in dessen Zielen und Ausführung. Dies war der juristischen Schwäche geschuldet, den NS-Staat vor allem wegen der Angriffskriege und der Kriegsverbrechen (gegen Kriegsgefangenen) zur Rechenschaft zu ziehen und sich dabei auf allgemeine Rechtsgrundsätze stützen zu müssen. Das aus dem römischen Recht kommende Rechtsstaatsprinzip, wonach ein genau umrissener Straftatbestand erfüllt sein muß, um zu bestrafen, wurde ignoriert. Die Haager Landkriegsordnung reichte insofern nicht aus, denn diese enthielt keine Strafandrohungen. Die in Londoner Statut enthaltene Prinzipien „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden wie die anderen Nürnberger Grundsätze erst im Jahre 1990 zu Völkerrecht infolge der Annahme durch die UNO (auf Betreiben der International Law Commission), waren also 1945 Maßnahmerecht, dem der Makel der Unbestimmtheit konkreter Straftatbestände mit Strafandrohungen sowie besonders der Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Strafnormen anhaftete.

Es steht außer Frage, daß die Nürnberger Prozesse hohe Bedeutung und Nachwirkung dadurch haben, daß durch sie zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg Schuld und Sühne einiger Haupttäter des NS-Staates erörtert wurden vor den Staatengemeinschaft und auch vor dem deutschen Volk. Im Hinblick auf den Holocaust von sechs Millionen Menschen aus Deutschland und anderen Teilen Europas blieben Fragen offen, denn dieses Menschheitsverbrechen wurde historisch wie juristisch verengt betrachtet. Und es stellt sich die Frage, warum die Richter die Dimension des KZ-Völkermordes an Juden sowie an Sinti und Roma nicht umfassend erkannten; vielleicht waren die Alliierten noch zu sehr von der Kriegssystematik gefangen. Den tausendfachen Verbrechen von Menschen in der KZ-Vernichtungsmaschinerie wurden die Nürnberger Prozesse nicht gerecht. Eine nachhaltige Wirkung auf die Deutschen hatten sie nicht, die meisten sahen den 8. Mai 1945 als „den totalen Zusammenbruch“, den Untergang Deutschlands, die Niederlage. Und jetzt waren „die Russen“ da in der Ostzone und US-Amerikaner, Briten und Franzosen in den Westzonen, die eher hoffen ließen. Dass die Deutschen einem Verbrecherregime gefolgt waren und Schuld am Völkermord auf sich geladen hatten durch Wegschauen, Mit-machen in Wort und Tat, war den wenigsten bewußt. Man hatte den Krieg verloren, gegen eine Übermacht. Die Tränen galten meist den eigenen Verlusten. „Die Juden“ waren fern und gehörten nicht zum deutschen Volk; zudem hatte man ja angeblich nichts gewußt und konnte auch nichts wissen. Das war die Mär. Die Prozesse gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ in Nürnberg sühnten wenig, delegierten die Schuld auf wenige und leiteten bei den meisten Deutschen die Traumabewältigung durch die Erzählung vom Dasein als Opfer ein, ausgeliefert den staatlichen Verhältnissen, gegen die man nichts machen konnte. Aber immerhin wurde die SS insgesamt als „Verbrecherorganisation“ bezeichnet und somit öffentlich gebrandmarkt. Diese Großorganisation des NS-Staates hatte gegen Ende des Krieges 794.941 Mitglieder, 550.000 davon dienten in der Waffen-SS, die ab 1941 militärrechtlich den Wehrmachtssoldaten gleichgestellt waren. Alle SS-Männer waren als fanatische Kämpfer und Verwirklicher der NS-Rassenideologie, direkt oder indirekt an Massentötungen beteiligt, zumindest bestand die Grundvermutung dazu, denn auch auf den Koppelschlössern stand bei jedem „Meine Ehre heißt Treue“.

Einen Monat nach Ende der NS-Prozesse in Nürnberg am 14. April 1949 wurde am 23. Mai die Bundesrepublik Deutschland gegründet durch Errichtung des Bonner Grundgesetzes.

Erst der Ulmer Einsatzgruppenprozeß von 1958 (gegen zehn Mitglieder von Gestapo, Sicherheitsdienst/SD und Ordnungspolizei) sowie die sogenannten Auschwitzprozesse ab 1963 wandten sich den Völkermorden an unseren deutschen und europäischen Mitbürgern zu, die allzu rasch mit den Begriffen „die Juden“ und die „Zigeuner bzw. die Sinti und Roma“ in eine sprachliche Abstraktion, ja fast in ein semantisches Niemandsland gebracht wurden. Es ging überwiegend um die Taten der KZ-Wachmannschaften (wozu auch Frauen gehörten), die als sogenannte SS-Totenkopfverbände staatliche Legitimation hatten. Himmler war Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei. Das Schwurgericht Frankfurt am Main verhandelte aufgrund der Gerichtsstandentscheidung des Bundesgerichtshofs von 1959 und urteilte in drei Verfahren bis 1968; in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts folgte noch ein weiterer Prozeß. Ohne den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wäre es nicht dazu gekommen. Es sein Verdienst zusammen mit Hermann Langbein vom Internationalen Auschwitz-Komitee, daß es entgegen aller NS-kontaminierten Verhinderungsstrukturen in Ministerien und in der Justiz zu Anklagen vor dem Schwurgericht kam. Der Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von Lars Kraume aus dem Jahre 2015 beleuchtet klar seine verzweifelten, aber umsichtigen Mühen und zeigt die Umrisse der Verschweige-Kartelle zum NS-Morden in der jungen Bundesrepublik Deutschland.

Etwa 20.000 SS-Leute waren in den KZ als Wachpersonal eingesetzt. Im Deutschen Reich und in den besetzen Gebieten und Staaten Europa gab es (die kaum glaubliche Zahl von) 1.634 KZ – nach dem vom Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz geführten „Verzeichnis der Konzentrationslager und ihrer Außenkommandos“ gemäß Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Im ersten Auschwitzprozeß wurde 20 Personen verurteilt (sechs zu lebenslangen Zuchthausstrafen), drei Angeklagte mangels Beweise freigesprochen. Im zweiten Auschwitzprozeß (1965/66) waren nur noch drei Personen angeklagt, die dreieinhalb, acht Jahre und einer eine lebenslange Zuchthausstrafe bekamen. Der dritte Prozeß in Frankfurt endete mit den Verurteilungen von zwei Personen zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen.

25 Personen wurden also bis 1968 vom Schwurgericht Frankfurt wegen Mord und Beihilfe zum Mord verurteilt. Stellt man die Zahl in ein Verhältnis zu den 20.000 KZ-Wächtern, wird die Dimension des Versagens der deutsche Strafrechtspflege erkennbar.

Zwei Aspekte beleuchten den Abgrund des Versagens, nämlich zum einen die hochdogmatisch angelegte Strafrechtslehre in Kommentarwerken und Universitäten zum Bereich Täterschaft und Teilnahme, die manifest war bis zum Jahre 2015, also 70 Jahre lang die Jurisprudenz im Strafrecht und die Strafgerichte beherrschte, und zum anderen ein Gesetzgebungstrick zur Verjährung, der maßgeblich von Eduard Dreher, Ministerialdirigent im Bundesjustizministerium, eingefädelt und nazi-schlau durchgedrückt wurde, so schlau, dass alle Minister und der Deutsche Bundestag hinters Licht geführt wurden und dann nicht den Mut hatten zu korrigieren.

Zum ersten Aspekt:

Bei der strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von Taten im NS-Staat innerhalb und außerhalb der Massenmorde der Konzentrations- und Vernichtungslager ging es immer um die Abgrenzung zwischen Tätern bzw. Mittätern und deren Gehilfen. Die auch von Karl Jaspers angelegte Schuldfrage beurteilt sich an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die eben beim Gehilfen geringer ist als beim (Haupt-) Täter. Fritz Bauer sprach beim ersten Auschwitzprozeß davon, daß die (gerade mal) 22 Angeklagten stellvertretend für 22 Millionen gewesen seien. Die Nürnberger Prozesse vor Gründung der Bundesrepublik, wo die „Hauptkriegsverbrecher“ vor Gericht standen, hatten bei uns Deutschen die Schlußstrichmentalität ausgelöst. Diese wirkt nach bis auf den heutigen Tag. Ein Volk von Tätern oder von Helfern? Nein, das wollte man nicht auf sich sitzen lassen. Die Rechtsprechung und Strafrechtskommentarwerke wie der Standardkommentar zum StGB von Dreher (später zusammen mit Tröndle) halfen, diesen Vorstellungen Gründe zu geben. Ausgehend von der Rechtsprechung des Reichsgerichts vertrat der Bundesgerichtshof bis 2015 und so ihm folgend die Untergerichte die Auffassung, Täter (der Massenmorde) könnten nur diejenigen sein, welche die Tat als eigene gewollt hätten. Diese sogenannte Animus-Theorie stützte sich auf eine subjektive Willensvorstellung bei demjenigen, der mordete. Wer diese nicht hatte, die Tat also dem anderen, dem höher gestellten in der SS-Hierarchie überließ, war nur Gehilfe. Der BGH modifizierte seine Theorie zwar in den 50er und 60er Jahren, hielt im Kern aber daran fest. Das Erfordernis der „Eigenhändigkeit“ und das Tatmerkmal „niedriger Beweggrund“ – basierend auf dem Vorwurf des Rassismus – führte dann dazu, dass viele Gerichte auf „Totschlag“ votierten oder bloß die Gehilfenschaft erkannten. Claus Roxin brachte in die strafrechtliche Abgrenzungstheorie den Begriff des „Tatherrschaftswillen“ ein; wäre man diesem gefolgt, hätten hinsichtlich des „arbeitsteiligen“ Tötens mehr Personen des KZ-Mannschaften als Mittäter angeklagt und verurteilt werden können, die Gerichte entschieden aber in der Regel anders. Und so gab es kaum Mittäter, sondern nur Gehilfen, die sich auch noch auf den sogenannten Befehlsnotstand nach § 47 des ehemaligen Militärstrafgesetzbuches (MStGB) beriefen; dies aber ohne Erfolg, denn nach dieser Norm waren verbrecherische Befehle unverbindlich und mussten verweigert werden. Fritz Bauer schaffte es nicht, das Lagerpersonal der KZ durch dessen arbeitsteilige Einbindung als Mittäter verurteilen zu lassen. Alle Mordverantwortlichkeit war auf die höchsten Ebenen abgelegt.

Diese Verfahrensweise der Gerichte entsprach den deutschen Mentalitäten nach dem Motto, die da oben waren es, wir konnten nichts machen. Das Verhalten der Strafrechtspflege macht das Desaster bei der „Aufarbeitung“ der NS-Morden deutlich. Erst im Jahre 2015, nachdem nun fast alle Täter verstorben sind und die allerletzten Prozesse gegen KZ-Wächter geführt wurden und werden, hatte der BGH ein Einsehen, hat die Animus-Theorie aufgegeben und erkannte zu Recht, daß maßgeblich für den Mittäter in der Todesfabriken das Erkennen und Handeln im Rahmen des staatlichen Gesamtauftrages des KZ war, nämlich die planmäßige Ermordung von Tausenden. War dies gegeben, war den Tatbeitrag Mord. Die Prozesse „Demjanjuk“ und „Gröning“ gaben die Wende. Zu spät.

 
Zum zweiten Aspekt:

Diese Bilanz der deutschen Strafrechtspflegen bei der Verfolgung von NS-Verbrechen wird allerdings noch dunkler, wenn man sich klar macht, wie Eduard Dreher (1907- 1996) – als ehemaliger Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck beantragte er 17-mal Todesurteile – es als Ministerialdirigent im Bundesjustizministerium schaffte, auch eine Vielzahl der Gehilfen an den Massenmorden straffrei zu bekommen – nämlich durch ein probates Mittel, durch das Verfahrenshindernis der Verjährung. Die umfangreiche Studie „Die Akte Rosenburg“ von Manfred Görtemäker und Christoph Safferling aus dem Jahre 2016 führt vor Augen, wie die zahlreiche NS-Juristen im neuen Justizministerium in der Bonner Rosenburg (ein ehemaliges Schloss) tätig waren, welchen Geist sie prägten und dass deren juristische Kompetenz stärker war als der politische Wille der Minister. Der Doyen der Rechtswissenschaftler war dort Eduard Dreher. Er war der Verfasser des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetzes (EG-OWiG). In dieses eher harmlose Gesetz brachte eine Klausel unter, wonach diejenigen, die Beihilfe zu den KZ-Massenmorden begangen hatten, in den Genuss einer 12jährigen Verjährung kamen. Und die war 1968 abgelaufen. Bezeichnenderweise sind die Ministeriumsakten zu diesem Vorgang „entsorgt“, also vernichtet worden. Die „Beweisführung“ in o.g. Studie ist dennoch plausibel; die Verfasser betonen, dass Dreher „ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit“ besaß, so zu handeln. Nicht verständlich bleibt jedoch, dass der Deutsche Bundestag das mit sich hat machen lassen und auch zu einem später Zeitpunkt diesen Skandal der „kalten Amnestie“ nicht aufgegriffen hat.

Und was bleibt nun nach allem? Verzweiflung und Abscheu? Nein. Deutschland ist ein Bürgerland, eines, das auch Geist, Kraft und Mut hat. Eines im Bogen von Schiller, Goethe, Herder und Heine sowie von Else Lasker-Schüler, Getrud Kolmar, Hilde Domin und von Georg Trakl, Paul Celan, Reiner Kunze und Ise Aichinger, das Sprachland, das ohne Gedichte nicht auskommen kann, weil Gedichte das Leben sind. Ich lebe in der Bundesrepublik-Philomena Franz, im warmen Schatten ihrer Grandezza und Mütterlichkeit. Denn wie ruft mir die Elberfelderin Else Lasker-Schüler zu? „Ein einzelner Mensch ist oft ein ganzes Volk.“

Gedichte sind das Gegenüber, nicht die furchtbaren Juristen, nicht die Seelen- und Geistlosen überall in Deutschland, welche Sinti und Roma für Exoten halten, für Fremde. Nein, sie sind uns nah, Staatsbürger wie wir alle.

Und nah bleiben uns auch alle, die in Rauch aufgegangen sind und die zu uns sprechen wollen, die ankern in unseren Gedanken und Träumen.
Philomena Franz, eine Mutter aus Deutschland, eine Mutter von Deutschland, schrieb uns zu:
„Wir Sinti hoffen immer auf gute Zeiten. Du gibst die Hoffnung nicht auf. Ohne Hoffnung kann der Mensch nicht leben. Jedes zweite Wort ist Hoffnung. In Gedanken redest Du schon mit Hoffnung, ich wenigstens.“

Am 21. Juli 2022 wurde ihr hundertster Geburtstag in Rösrath, wo sie lange Jahre lebte, gefeiert, nicht von der kleinen Stadt in der Nähe Kölns – diese distanziert sich von der Familie Franz weiterhin –, sondern mit einer wissenschaftlichen Tagung und einem „Poetischen Nachtgebet“ vom Philomena Franz Forum, das am 27. Januar 2021 als Bürgerverein gegründet wurde.

Letzte Änderung: 26.01.2023  |  Erstellt am: 26.01.2023

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Kommentare

Sidonia schreibt
Lieber Matthias, danke für den substanziellen Essay, der Recht und Poesie verbindet, zwei Leidenschaften Philomenas. Mit Deinem Erinnerungstext gedenken wir, einen Monat nach ihrem Tod, unserer innigen, noblen Freundin, die Du hervorragend beschreibst. Der Text rührt mich zutiefst. Möge er eine möglichst breite Leserschaft erreichen! Herzlich nach Hoffnungsthal, Sidonia
Bruno Mattes schreibt
Der Text beschwört eingangs aufdringlich, was es zu erklären gälte. Und provoziert daher Abwehr. (Ich weiß, aus beruflichen Gründen, wovon ich rede). Das Schicksal vieler in hohem Ton vorgetragener Reden ebenso wie die erwähnten schrägen sprachlichen Entgleisungen Merkels. Das bekannte Gedicht Celans mag "Auschwitz Sprache geben", erklärt aber nicht, wie es dazu kam. Das könnte man, das Wissen, die Kenntnisse dafür sind heute da, und viel Abstand. Statt dessen werden wieder mal Beethoven und Hölderlin und die "Kulturnation" bemüht, was schon immer abwegig war, weil dabei zu viel ausgespart wird. Der urchristliche Antisemitismus ebenso wie die fehlenden dem.-lib. Traditionen gerade in den "gebildeten" elitären Schichten. Die Nazis begeisterten sich an Beethoven und Furtwängler, Heydrich war hochmusikalisch, spielte virtuos Geige. Sonst war er bekanntlich ein Organisator des Massenmords. Im Staatsdienst.

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