Mehr Fiktion wagen

Mehr Fiktion wagen

Ein Aufruf
Michelangelo Merisi da Caravaggio: Narcissus | © wikimedia commons

Wie nach einem Kochrezept sind sie verfertigt, die Romane mit den selbstähnlichen Familiengeschichten. Nur die Zutaten variieren. Und das Erstaunlichste ist die Gier, mit der das Immergleiche immer neu gekauft wird. Hoch im Kurs stehen die autobiografischen Werke, deren Wert in einem trivialen Realismus gesehen wird. Kerstin Lücker ruft zu mehr Phantasie auf, setzt ein Projekt in die Welt und bittet um Mithilfe.

Über Wohl und Wehe autofiktionaler Literatur wird viel gestritten. Dabei sind die Werke, die das Label verdienen, nicht mal ansatzweise über einen Kamm zu scheren. Zu unterschiedlich sind sie nicht nur der literarischen Qualität, sondern schon der Definition nach: Was ist eigentlich Autofiktion?
In den 1960er Jahren verkündete die Literaturtheorie den „Tod des Autors“: man suche, so die These, in literarischen Werken zu sehr nach autobiografischen Spuren und verschließe sich damit einer Vielfalt an Deutungen, die eine rein textgestützte Interpretation eröffne. Heute ist das Autobiografische umso stärker zurück, nicht nur als Grundlage einer von mehreren Interpretationsmöglichkeiten, sondern als kaum oder gar nicht mehr gezielt fiktionalisierte Erzählweise, die spätestens mit dem Nobelpreis für Annie Ernaux höchste literarische Weihen erhielt. Dabei kann man sich in vielen Fällen fragen, ob sich das literarische Erzählen autobiografisiert und damit zur oft beklagten Autofiktionsschwemme beigetragen hat, oder ob heute lediglich anders etikettiert wird als früher. „Romane“ von Karl-Ove Knausgård, Édouard Louis oder Schauspielern wie Edgar Selge und Jörg Hartmann stehen neben den „Autobiografien“ von Goethe (Dichtung und Wahrheit) und Canetti (Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das Augenspiel). Aber handelt es sich nicht bei allen um – wenn auch verschiedene – Erdbeermarmelade?

Wenn sich das Selbst von Autorinnen in die literarische Erzählung einschreibt, geschieht das aus unterschiedlichen Gründen. Autoren wie Michael Chabon – um nur einen zu nennen – betreiben es als Spiel mit der Tatsache, dass Erinnerungen trügerisch sind, wir also nicht wissen, wie etwas „wirklich war“. In Moonglow lässt Chabon sich von seinem Großvater am Sterbebett frei Erfundenes erzählen, da, wie er im Guardian 1 erklärt, jede Erinnerung Fiktion sei – in Abwandlung eines Diktums des Historikers Hayden White. „Clio dichtet“, behauptete White, auch die historische Erzählung sei nichts als Fiktion, weil sie die vorgefundenen Zeugnisse der Vergangenheit in Narrative binde, die gar nicht anders können, als zu verfälschen und zu verzerren – weshalb „Geschichte“ nie als „wahre“ Darstellung der Ereignisse gelesen werden dürfe.

Tatsächlich aber täuschen uns White und Chabon, indem sie die literarische Erfindung mit der notorisch unzuverlässigen Erinnerung gleichsetzen, mit einem billigen Zaubertrick. Keine einzige Figur im Tableau der Historie, kein Ort, kein Ereignis darf frei erfunden sein, die historische „Fiktion“ gründet auf den immer gleichen Bausteinen, deren Echtheit sie ständig neu überprüft, während die Fiktion alles darf: Nur hier können Pferde Flügel haben oder ein einziges Horn auf der Stirn. Was wir uns über unsere Vergangenheit erzählen, mag immer falsch, aber es sollte nie erfunden sein. Sich lückenhaft erinnern, fehlerhafte Schlüsse ziehen, Dinge übersehen, missachten – all das hat nichts mit Erzählungen gemein, die der Fantasie entspringen. Ersteres kann bezweifelt, korrigiert, neu interpretiert werden, letzteres bedarf dieser Korrektur gar nicht. Wir können davon träumen, dass eine Uhr mit dem Vergehen der Zeit physisch zerfließt, bis sie unförmig über einem kargen Ast hängt. Wir werden diesen Vorgang aber vermutlich niemals mit den eigenen Augen beobachten.
Natürlich dient die literarische Verarbeitung persönlicher Erfahrungen nicht zwingend oder nicht allein dem Spiel mit der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Vielmehr stellt sie Abstand zur eigenen Erfahrung her – zwischen der Autorin und ihrem Text auf der einen und den Leserinnen auf der anderen Seite. Anders als die Geschichte darf die Kunst jede tatsachengestützte Wahrheit um einer höheren Wahrhaftigkeit willen hinter sich lassen. Trotzdem ist die Beobachtung wohl nicht von der Hand zu weisen, dass Autorinnen sich heute vermehrt einem Wirklichkeitshunger 2 der Öffentlichkeit ausliefern, und es gibt es Autoren, bei denen zu bezweifeln ist, ob sie literarisch bestehen würden, wenn sie nicht ihre eigene Geschichte verkauften, oder sagen wir, wenn sie sie weniger vordergründig ausleuchten würden.
Sofern man den Buchmarkt nicht als alleinige Triebkraft für diesen Trend verantwortlich machen will, könnte man zumindest festhalten, dass das Genre vielleicht auch von einem durch Social Media gesteigerten Bedürfnis vieler befeuert wird, vor allem sich selbst zu spiegeln.
Weshalb es vielleicht an der Zeit ist, die Sache einmal ganz auf den Kopf zu stellen: Warum eigentlich enthält vieles, was als Auto-Fiktion verkauft und gelesen wird, so wenig Erfindung? Wo sind die Einhörner in den fiktionalen Autobiografien? Wie sähen sie aus, literarische Selfies, die alle Freiheiten der Kunst als unendlich verlängerbaren Arm nutzen, nicht, um sich so nah wie möglich, sondern mit größtmöglicher Distanz zu porträtieren? Mein Leben als Märchen, als Heldinnen-Epos, als Science-Fiction-Roman? Meine Lebensgeschichte als alternative Historie, als Traumbiografie?
Sollten wir nicht in der Autofiktion mehr Fiktion wagen?
 
 
 
Gesucht: Die Kaiserin von China

Wir bitten Autorinnen und Autoren um frei erfundene Selbstporträts; gezeichnet nach allen Regeln der literarischen Kunst. Möglichst kurz, als Beiträge zu einem Sammelband.
Herausgegeben von Kerstin Lücker & Claudia Woldt.
Felicitas Hoppe, Erfinderin der Autobiografie Hoppe, übernimmt die Patenschaft.
Beiträge an kerstin.luecker@mailbox.org
 
 
 
 
1 https://www.theguardian.com/books/2017/jan/27/michael-chabon-interview-books
2 https://www.zeit.de/kultur/2023-12/dan-sinykin-big-fiction-konzerne-verlage-literaturbranche

Letzte Änderung: 09.04.2024  |  Erstellt am: 09.04.2024

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