Wo ich geboren wurde

Wo ich geboren wurde

Michael Krügers Eingangsgedicht
Michael Krüger | © wikimedia commons

Auch wenn man den Klang seiner Stimme nie gehört hat, wird man ihn beim Lesen seiner Gedichte wiedererkennen. Er schwingt mit in seiner Weise, die Welt poetisch zu beschreiben. Seine „Erinnerungen und Begegnungen“ hat der nun 80 jährige Michael Krüger in dem Band „Verabredungen mit Dichtern“ anekdotisch an seiner Biographie entlang aufgeführt. Die Sammlung mit erzählender Prosa wird eingeleitet mit dem Gedicht „Wo ich geboren wurde“.

Wo ich geboren wurde

 
1

Mein Großvater konnte über hundert Vögel
an ihren Stimmen erkennen, nicht gerechnet
die Dialekte, die in den Hecken gesprochen wurden,
dunklen Schulen hinter dem Hof,
wo die Braunkehlchen Aufsicht hatten.
Mein Großvater war Spezialist für Kartoffeln.

Mit den Händen grub er sie aus, zerbrach sie

mit den Daumen, die weiß wurden,
und ließ mich an der Bruchstelle lecken.

Mehlig, gut für Schweine und Menschen.
Auch nach der Enteignung wollte er unbedingt
an Gott glauben, weshalb ich die Kartoffeln
ausbuddeln musste aus seinem ehemaligen Acker.
Wie auf holländischen Bildern zogen

schwere Wolken über den sächsischen Himmel,
sie kamen aus Russland und Polen

und fuhren nach Westen, ihre Fracht wurde leichter,
durchsichtiger und feiner, bis sie in Frankreich
als Seide verkauft wurde. Im Westen, sagte er,
finden Verwandlungen statt, wir werden verwandelt.
Im Dorf fehlten einige seiner Freunde,
die mussten in Russland die Wolken beladen.

 
2

Meine Großmutter benutzte die Brennschere,

um ihre dünnen Haare zu wellen. Man muss

dem Herrgott ordentlich frisiert gegenübertreten.
Der kam meistens nachts, wenn ich schon
schlafen sollte, setzte sich auf den Bettrand
und unterhielt sich mit ihr auf Sächsisch.

Beide flüsterten, als hätten sie ein Geheimnis.
Manchmal waren sie freundlich zueinander,
dann wieder zankte sie mit ihm wie
mit dem Großvater, wenn der sein Glasauge
neben den Teller legte. Wenn man es falsch herum
einsetzt, kann man nach innen sehen,
in den Kopf hinein, wo die Gedanken leben,
sagte er und stopfte seine Pfeife mit Eigenbau,
der neben dem Tisch an der Wand hing, labbrige Blätter,
von einem Faden durchzogen. Die Ärmel der Joppe

des Großvaters waren von Brandlöchern genarbt.
Wie deine Lunge, sagte die Großmutter, beides
aus braunem Stoff. So vergingen die Tage.
Abends gab es Kartoffeln mit Sauce oder ohne.
Wenn auf dem Hof geschlachtet wurde, fand ich
Wellfleisch auf meinem Teller, aber ich durfte nicht
fragen, wie es zu uns gefunden hatte.
Wellfleisch kann fliegen, damit war alles gesagt.
Ich stellte mir Gott als einen Menschen vor,
der alles mit sich machen ließ.

 
3

Mein Großvater las nicht mehr. Alle Bücher stehen
in meinem Kopf, sagte er, aber ganz durcheinander.
Dafür erzählte er gerne, am liebsten vom König,
der sich angeblich für ihn interessiert hatte.
Auf der Jagd sollte er ihm einen Hasen
vor die Flinte treiben, aber der Großvater hatte

das Tier unter seinem Mantel versteckt.
Ich kann noch heute das Hasenherz schlagen hören,
rief er und fasste sich an die Stelle, wo seine Uhr
hing. Hasen haben ein schlechtes Herz,
damit kann man keinen Staat machen. Vom Staat
war nicht viel zu erwarten. Wenn die Großmutter

nicht im Zimmer war, hörten wir Radio, messerscharfe
Stimmen, die den Rauch seiner Pfeife zittern ließen.
Saubande, sagte mein Großvater, der sonst nie
fluchte. In der Nähe von Beromünster war die Musik
zu Hause, da fahren wir eines Tages hin, sagte er,
und hören Bach und Tschaikowski. Dann schlief er ein.
Das Lid über seinem Glasauge war nie ganz geschlossen.

 
4

Als ich mein Dorf kürzlich besuchte,
fiel mir alles wieder ein, nur ungeordnet:

der Kunsthonig und der schwarze Sirup, der sämig
durch die Löcher im Brot tropfte, die fauchenden Feuer
über Meuselwitz, die kyrillischen Gewehre im Steinbruch
von Keyna, der Kohlenstaub, Warmbier, der ängstliche Gott,
der schnatternde Alarmruf des Wiedehopfs,
die puckernden Flüsse auf dem Handrücken des Großvaters,
der blaue Teppich unter den Pflaumenbäumen,
die Eselsohren in der Bibel, die fromme Armut,

das Glück. Auch die Toten redeten mit, von fern her
angereist in altmodischen Kleidern, die Frauen

mit Haarnetzen, die Männer in gewendeter Uniform,
mit Schusslöchern auf der eingefallenen Brust.
Und in der Mitte mein Großvater, ein Auge auf die Welt

und eines nach innen gerichtet, vor sich ein Teller
Kartoffeln, mehlig und buttergelb, gut für die Schweine

und Menschen und mich.

 
5

Das alles bin ich, der Mann mit dem Hasenherz.
Nicht mehr, eher weniger.

(1990)
 
 
 
 
Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages.

Letzte Änderung: 07.02.2024  |  Erstellt am: 03.02.2024

Verabredung mit Dichtern | © wikimedia commons

Michael Krüger Verabredung mit Dichtern

Erinnerungen und Begegnungen
Die Memoiren des legendären Hanser-Verlegers
447 S., geb.
ISBN-13: 9783518431399
Suhrkamp, Berlin 2023

Hier bestellen
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Kommentare

Herbert Jaumann schreibt
Ein großartiges Gedicht, anrührend, wie auch Krügers jüngstes Buch, das ich vor kurzem gelesen habe, in wenigen Tagen. Die Jahreszahl 1990 ist sicher kein Zufall: "Nicht mehr, eher weniger". So ist es, wahrscheinlich.
Regina Ray schreibt
Großes Kompliment für dieses reichhaltige Gedicht
Angelika Obracai schreibt
Bin begeistert von diesem Gedicht. Mein kürzlicher Besuch in meiner Heimatstadt hat wieder viele Erinnerungen wach gerufen.

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