Denk ich an Brexit, denk ich an ’77

Denk ich an Brexit, denk ich an ’77

Lyriklines

Ob man ihre Bedeutung erfassen kann oder nicht, manche Gesangsfragmente, manche Liedpassagen und Songtexte lassen sich dauerhaft auf einem Gedächtnisplatz nieder, den wir offenbar für solche singseligen Gäste reserviert haben. Die Reihe LyrikLINES gibt AutorInnen Gelegenheit, solchen Ohrwürmern nachzugehen und damit ihren eigenen Assoziationen zu folgen. Michael Behrendt erinnert sich an den Aufstand, den White Riot, den The Clash 1977 anzettelte, und an andere Punk-Attacken, die alles, was vorher war, für irrelevant erklärten.

Wah Rah A Wah a Rah Wah Rah a Rah Ahho? Aber ja doch! Genau das schrieb ein User auf Youtube als trockenen Kommentar zum „White Riot“-Video von The Clash. Und warum? Weil es in etwa das ist, was man auf die Schnelle versteht, wenn man den Song, der gleich mit dem Refrain beginnt, zum ersten Mal hört. Eigentlich singt Joe Strummer: „White riot, I want to riot / White riot, a riot of my own.“ Aber wir schreiben das Jahr 1977, und in Großbritannien ist der Punk ausgebrochen. Da werden krachende Rockstücke eben so kurz und simpel wie möglich gehalten und der Welt da draußen zornig entgegengespuckt.

Wer die wunderbare aktuelle Amazon-Serie „Daisy Jones & The Six“ über den turbulenten Aufstieg einer (fiktiven) amerikanischen Rockband in den Siebzigern gesehen hat, erinnert sich vielleicht an eine kurze Szene gegen Ende – sie spielt ebenfalls etwa 1977 –, als die mittlerweile zu Superstars aufgestiegenen Bandmitglieder eher zufällig einem lärmenden Punkkonzert beiwohnen. Nach dem Gig versucht der Six-Bassist kumpelhaft, mit dem verschwitzten Punksänger Kontakt aufzunehmen, von Künstler zu Künstler gewissermaßen, doch der lässt ihn mehr oder minder angewidert stehen. Es ist nicht zu leugnen: Zwischen den beiden Männern liegen Welten. Die „Rockdinosaurier“ sind irritiert, und doch ahnen sie: Wir sind längst Establishment – das da ist die Zukunft! Solche Begegnungen sind in der Rockgeschichtsschreibung haufenweise verbürgt, und einen ähnlichen Moment konnte ein internationales Fernsehpublikum 1979 erleben, als im WDR-„Rockpalast“ die gestandenen Bluesrocker der J. Geils Band auf die damalige Newcomerin Patti Smith trafen: eine regelrecht Besessene, die mit allen Bühnenkonventionen brach und samt Rumpelcombo ein fast schon apokalyptisches Punkfeuerwerk entfachte. Das Unverständnis und die Arroganz, mit der sich die gewieften Könner Geils & Co im Interview über die „Verrückte“ da amüsierten, ist vielen Fans bis heute in Erinnerung geblieben. Auch mir.

Punk markierte eine Zeitenwende. Und wer sich nur ein bisschen für Musik interessierte, konnte diese Zeitenwende beinah körperlich spüren. Okay, es war schon arg gewöhnungsbedürftig, was da von den Britischen Inseln aufs Festland rüberschwappte. Aber es hatte etwas Aufregendes – beunruhigend und doch faszinierend. Während die Sex Pistols als „Schöpfung“ des Kunstprovokateurs und Guerilla-Marketing-Spezialisten Malcolm McLaren die artifizielle, stilisiert nihilistische Seite des Punk verkörperten, standen The Clash mit beiden Beinen fest im tristen Alltag und für die sozialkritische, latent revolutionäre Variante. Das wirkte wenigstens noch ein bisschen vertraut, und zumindest gedanklich konnte ich schon mal andocken. Was mich als auch an Texten interessierten Fan zusätzlich beschäftigte: White Riot, ein programmatischer, ein „Wiedererkennungs“-Song der Band, formulierte einen schon leicht schrägen Gedanken: Die unterdrückten Schwarzen wehren sich so toll, warum tun wir Weißen das nicht auch? Der Sprecher forderte nicht mehr und nicht weniger als seine eigene weiße Revolte. Echt jetzt?

Die Argumentation des Songs im Einzelnen: Die Schwarzen seien ja massiven Repressionen ausgesetzt, würden aber keine Sekunde zögern, Steine gegen das System zu werfen. Demgegenüber würden die gesicherten weißen Kids in der Schule nur zu Menschen mit einem Brett vorm Kopf erzogen: „Black man gotta lotta problems / But they don’t mind throwing a brick / White people go to school / Where they teach you how to be thick.“ Weiße würden immer nur tun, was man ihnen sagt, und hätten Angst vor dem Gefängnis: „An’ everybody’s doing / Just what they’re told to / And nobody wants / To go to jail.“ Für den Sprecher steht fest: Die Macht liegt in den Händen von Reichen, die sich diese Macht einfach kaufen, während der Rest der weißen Bevölkerung zu feige ist, einen Aufstand auch nur zu versuchen: „All the power’s in the hands / Of people rich enough to buy it / While we walk the street / Too chicken to even try it.“ Gegen Ende folgt der Aufruf an andere weiße Kids, mitzumachen und die Revolte zu starten: „Hey you, standing in line / Are we gonna sign an agreement?“

Keine Frage, hier äußerte sich ein programmatisches Ich, das vor allem als Sprachrohr einer Bewegung funktionierte. Von einer gewissen Nähe zwischen dieser Manifestmaschine und dem biografischen Ich Joe Strummers war auszugehen. Was – und das erwies sich als weiteres faszinierendes Phänomen – Missverständnisse keineswegs ausschloss: „Wa Rah…“ und irgendwas mit „black people“? Da wollten manche schlichte Gemüter weißen Stolz und einen nationalistisch motivierten Aufruf zum Rassenkrieg heraushören. Wiederholt mussten The Clash in Interviews unterstreichen, dass sie keine rechtsradikale Band seien – und dass es auf ganz andere Weise um Rassenkonflikte ging: nämlich darum, sich nicht nur mit der unterdrückten, aber aufbegehrenden schwarzen Bevölkerung zu solidarisieren, sondern selbst als Weißer gegen Regierung und Polizei aufzubegehren. Die Kernaussage „I want a white riot“ wurde bei dem einen oder anderen Konzert vom Publikum wörtlich genommen, vielleicht auch von solchen Leuten, die die Band nicht unbedingt unter ihren Fans sehen wollte. Weshalb Veranstalter bei Clash-Konzerten zunehmend Angst um das Mobiliar der jeweiligen Location hatten. Auch die Frage, ob Schwarze nun zu White Riot tanzen sollten oder dürften, wurde hier und dort diskutiert. Blödsinnig eigentlich, weil: Natürlich sollten sie dürfen – wenn ihnen der Song gefiel.

Bands wie The Clash wirbelten nicht nur das wohlgeordnete Rockuniversum mit seinen saturierten Stars und Profitmaximierungsstrategien ordentlich durcheinander – sie befeuerten auch gesellschaftliche Diskurse. In White Riot geht es ums Aufbegehren … doch wogegen eigentlich? Großbritanniens Entwicklung in den 1970er Jahren zeigt, dass The Clash nicht grundlos argumentierten. Die Zeitung „der Freitag“ fasst im Oktober 2009 speziell für den Londoner Stadtteil Notting Hill zusammen: „In Notting Hill lebten zu dieser Zeit vor allem Einwanderer aus der Karibik. (…) Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und Rassismus waren an der Tagesordnung. Ein neues Gesetz erlaubte der Polizei, junge Schwarze ohne konkreten Verdacht zu durchsuchen und festzunehmen. Es herrschte Krieg zwischen ihnen und der »weißen« Polizei. Zur gleichen Zeit erhielten faschistische Gruppen wie die National Front Zulauf, die mit der Hetzparole »Keep Britain White« (»Halte Großbritannien weiß«) gegen Einwanderer mobil machte.“ Den Hintergrund für diese Phänomene bildet eine gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die die „F.A.Z.“ im Rückblick folgendermaßen beschreibt: „Die siebziger Jahre waren in Großbritannien das Jahrzehnt des wirtschaftlichen Niedergangs mit Inflationsraten bis 26,9 Prozent, schwindsüchtiger Produktivität und steigender Arbeitslosigkeit. Das Land durchlief eine schwere Krise …“ Und wie sich diese Krise bisweilen anfühlte, umriss ein „Der Spiegel“-Artikel vom 14. Januar 1974 bereits in der Anlese: „Millionen sind ganz oder teilweise arbeitslos, Londons Straßen dunkel, die Stahlproduktion sank auf 50 Prozent. Um Energie zu sparen und die Gewerkschaften zu bezwingen, verhängte die britische Regierung die Drei-Tage-Woche.“

Titel des „Spiegel“-Beitrags: „England vor dem Stillstand“. In diesem gesellschaftlichen Klima besuchten Joe Strummer und Bassist Paul Simonon am 30. August 1976 den alljährlichen Karneval in Notting Hill, ein buntes Festival der Kulturen mit Umzug, Essen und Livemusik, organisiert von der schwarzen Gemeinde. „Was als lokales Event begann, war 1975 eine Massenveranstaltung mit 150.000 Teilnehmern – es glich einer Demonstration. Ein Dorn im Auge der Staatsmacht“, beschreibt „der Freitag“ die Ausgangslage. „Schon im Vorfeld des Karnevals 1976 versuchten daher Polizei, Gemeindeverwaltung und Medien, den Karneval weg von der Straße zu bekommen. Die Stimmung war dementsprechend aufgeheizt. Aber die Organisatoren blieben hartnäckig. Sie verlangten, dass der Karneval ein Straßenumzug bliebe.“ Das Ganze fand schließlich statt, aber die Polizei dominierte das Geschehen, mit fatalen Konsequenzen: „Es war nun der Karneval der Polizei. Als diese am zweiten Tag einen schwarzen Jugendlichen wegen angeblichen Taschendiebstahls festnahm, eskalierte die Situation.“ Es kam zu Straßenkämpfen, die 48 Stunden dauerten und Hunderte Verletzte forderten, die meisten aufseiten der Polizei.

Strummer und Simonon, damals mit ihrer Band noch völlig unbekannt, waren so beeindruckt von den Ereignissen, dass sie einen Song darüber machten – eben White Riot. Auch in der Folge schrieben sie über soziale Themen, über schlimme soziale Verhältnisse, gegen staatliche Unterdrückung und gegen Krieg, gegen Arbeitslosigkeit, Auswüchse des Kapitalismus und für den Respekt gegenüber Minderheiten. Sie spielten für streikende Bergarbeiter und 1978 beim ersten Londoner „Rock Against Racism“-Konzert der britischen Anti Nazi League mit 100.000 Besuchern. Dieser Ansatz schlug sich sogar musikalisch nieder. Schon bald machten sich Einflüsse von schwarzen Musikstilen wie Reggae und Ska in ihren Songs bemerkbar, die damit auch stilbildend für Teile der auf den Punk folgenden New Wave wurden.

White Riot sorgte noch für weitere Kontroversen. Zum Beispiel unter den Bandmitgliedern, von denen einige den Song als Korsett empfunden haben sollen. Schwerwiegender war der Vorwurf, The Clash hätten von Anfang an Ausverkauf betrieben. White Riot und das dazugehörige erste Album der Band erschienen gleich beim Industrieriesen CBS und nicht etwa bei einem der mutig aus dem Boden sprießenden, künstlerisch autarken Indie-Labels. Rebellion und großes Geld – das passte für einige Journalisten und Fans, aber auch für manche Künstler nicht recht zusammen. So münzte die britische Anarchopunk-Band Crass zwei Zeilen ihres Frust-Songs Punk Is Dead auf Strummer & Co: „CBS promote the Clash / But it ain’t for revolution, it’s just for cash.“ Und die scharfzüngige Feuilletonistin Julie Burchill konnte der Band nach ihren glamourösen USA-Tourneen und Kokaineskapaden nur noch eins bescheinigen: den totalen Verlust an Credibility. Aber schadete das dem Erfolg der Musiker? Untergrub es vielleicht ihre ursprüngliche Energie und Haltung? Nicht wirklich.

Es waren schon wilde Zeiten. Kamen damals, Ende der Siebziger, neue Alben von Pink Floyd, Fleetwood Mac, Alan Parsons Project oder Led Zeppelin heraus, dann wurde in Medien und Fankreisen gepflegt über Songqualität und virtuoses Spiel, über Produktionsfinessen oder Veränderungen in der Bandchemie diskutiert. Punk und später New Wave aber mit all ihrem Zauber und all ihren Widersprüchen produzierten grelle Störfeuer. Sie verwandelten Musik zurück in pure Energie und wirkten obendrein in die Gesellschaft hinein. Wah Rah A Wah a Rah Wah Rah a Rah Ahho war auch popkulturell so etwas wie ein Weckruf.
 
 

Große Teile dieses Beitrags sind zuerst erschienen in: Michael Behrendt, Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. WBG/THEISS, Darmstadt 2019.

Letzte Änderung: 14.06.2023  |  Erstellt am: 14.06.2023

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